Schon zu Bonner Zeiten gab es auf der politischen Führungsebene einen Grundsatz, den der legendäre Postminister Werner Dollinger (CSU) auf den Punkt zu bringen pflegte: Nie was schreiben, nur telefonieren. Jahrzehnte später hätte Robert Habeck nicht die höchste politische Ebene erklommen, wenn er das Dollinger-Gesetz nicht beachtet hätte, nämlich möglichst keine Spuren zu hinterlassen, die ihm zum Nachteil gereichen könnten. Denn bald dürfte es für den grünen Wirtschaftsminister zum Schwur kommen: Ist er – zusammen mit Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) – möglicherweise dafür verantwortlich, daß wichtige Argumente der Regierungsfachleute für die Weiternutzung der Kernkraft in Deutschland vom Tisch gewischt beziehungsweise sogar in ihr Gegenteil verkehrt wurden?
Der Cicero hatte vorigen Donnerstag Dokumente aus dem Wirtschaftsministerium veröffentlicht, deren Herausgabe das Berliner Magazin vor Gericht erstritten hatte. Schon die Weigerung, die Dokumente zum Atomausstieg herauszugeben, zeigt, wie wenig ernst Habeck und die grüne Entourage den Begriff Transparenz wirklich nehmen. Sie gilt offenbar nur für andere. Was das Ministerium an Cicero übergab, läßt den Schluß zu, daß die letzten drei deutschen AKW (Emsland in Niedersachsen, Isar 2 in Niederbayern und Neckarwestheim 2 in Württemberg) am 15. April 2023 ohne zwingenden Grund abgeschaltet wurden.
„Die Akten erzählen, daß ergebnisoffen diskutiert wurde“
Nach der Cicero-Veröffentlichung erklärte Habeck in einer Sondersitzung des Wirtschaftsausschusses des Bundestages am Freitag auf die Frage von Unionsabgeordneten, wann er zum ersten Mal von den Empfehlungen zum Weiterbetrieb von Atomkraftwerken erfahren habe: „Gestern.“ Daß an dem Vorwurf des Magazins („Habecks Geheimakten – Wie die Grünen beim Atomausstieg getäuscht haben“) etwas dran sein könnte, bestritt der 54jährige Minister entschieden: „Es war ausdrücklich mein Wunsch, alle Varianten zu prüfen“, so Habeck über die Beratungen zum Atomausstieg. „Die Akten erzählen, wenn man sie genau und unparteiisch prüft, daß ergebnisoffen diskutiert wurde.“
Die Kraftwerksbetreiber hätten zum Zeitpunkt der Entscheidung keine Ressourcen mehr für einen Weiterbetrieb der Atommeiler gehabt, behauptete Habeck. Haupthindernis sei die Beschaffung neuer Brennelemente gewesen, was nach Angaben der Atomunternehmen angeblich 18 Monate gedauert hätte. Ein Weiterbetrieb über den avisierten Streckbetrieb hinaus wäre zu diesem Zeitpunkt nach Einschätzung der Betreiber nicht umsetzbar gewesen, sagte Habeck im Ausschuß. Die Frage eines Weiterbetriebes habe deshalb nur theoretischen Charakter gehabt. Allerdings hatte sich das Argument der fehlenden Brennstäbe schon 2022 als falsch herausgestellt.
Die Bild-Zeitung berichtete, daß die zuständigen Experten im Umweltministerium am 1. März 2022 geschrieben hätten: Ein Weiterbetrieb der letzten Atommeiler sei mit der „nuklearen Sicherheit“ vereinbar. Zwei Tage später habe Gerrit Niehaus, Abteilungsleiter für nukleare Sicherheit und Strahlenschutz und ein „Anti-Atom-Urgestein“ (Bild), den Satz in einem anderen Schriftstück in sein Gegenteil verkehrt: Längere AKW-Laufzeiten seien aus Gründen der „nuklearen Sicherheit“ abzulehnen. Diese Version soll dann über Lemkes Umweltstaatssekretär Stefan Tidow an Habecks damaligen und später wegen der „Trauzeugenaffäre“ zurückgetretenen Staatssekretär Patrick Graichen weitergeleitet worden sein, der wiederum sein Fazit „Eine Laufzeitverlängerung nicht zu empfehlen“ an den Minister weitergegeben habe.
Führt die „Täuschungsaktion“ zu einem Untersuchungsausschuß?
Diese Darstellung kann den Eindruck erwecken, daß Habeck möglicherweise unvollständig unterrichtet oder sogar getäuscht worden sein könnte. Das jedoch ließ Habeck selbst nicht gelten, als er vor der Presse erklärte: „Insofern ist also die Annahme, daß da eine Art Geheimwissen wäre, das mich nicht erreicht hätte, falsch.“ Seine Parteifreundin Ingrid Nestle eilte ihm zur Hilfe und interpretierte die aus den übergebenen Akten gewonnenen Erkenntnisse als „normales Verwaltungshandeln“.
Mark Helfrich, energiepolitischer Sprecher der Unionsfraktion, sprach dagegen von einer „Täuschungsaktion“. Diese müsse „in einem Untersuchungsausschuß aufgearbeitet werden“, so der Dithmarscher CDU-Politiker. Auch der umweltpolitische Sprecher der AfD-Fraktion, Andreas Bleck, forderte eine parlamentarische Aufarbeitung. Einen Untersuchungsausschuß könnten CDU und CSU mit eigener Kraft durchsetzen. Seine Aufklärungsmöglichkeiten gehen weit über das Sichten einiger Vermerke wie durch Cicero hinaus.
Habeck und Lemke würden erfahren, daß es einen Unterschied macht, ob man vor der grünen-freundlichen Hauptstadtpresse Scherze macht oder vor einem Untersuchungsausschuß steht, wo man mit unter Eid gemachten Aussagen anderer Zeugen konfrontiert wird, zu Akten Stellung beziehen, auf oft quälende Nachfragen antworten muß und sich der Vernehmung nicht wegen anderer Termine vorzeitig entziehen kann.
Für die Grünen wäre ein Untersuchungsausschuß höchst ärgerlich, weil sein Arbeitsbeginn in die Zeit wichtiger Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen hineinfallen würde. Außerdem würde der Abschlußbericht kurz vor der Bundestagswahl 2025 fertiggestellt werden und somit im Wahlkampf eine Rolle spielen.
Grüne Ministererklärung zum Atomausstieg: bmwk.de