Kolonialgeschichte ist überall – auch in Norwegen. Nicht zuletzt, weil die Einwanderung aus dem globalen Süden ins Land der Fjorde dafür sorgt. Beispielsweise in einer Gruppe, die sich vor der Stabkirche im Freilichtpark „Norsk Folkemuseum“ versammelt, sind von 22 Schülern sechs schwarzafrikanischer Herkunft. In der kleinen Obstplantage des Museums schneidet eine Gärtnerin gemeinsam mit einem schwarzen Kollegen die Apfelbäume. „Ach, Sie sind aus Deutschland? Ich komme aus Tansania, der Kolonie des Kaisers“, sagt er auf englisch. Ob er sich noch gut erinnere, scherze ich. Er lacht. Seit 30 Jahren lebt er in Norwegen, und als er erfährt, daß man in Hessen Apfelwein trinkt, ist er begeistert. Er wolle sich unbedingt welchen besorgen, und werde dann an mich denken.
Der Fahrer des Linienbusses, der in die Innenstadt zurückfährt, stammt hingegen aus Eritrea und arbeitet seit vielen Jahren in Oslo. Freundliche Busfahrer, lustige Gärtner – die „bunte Gesellschaft“ scheint hier wirklich zu funktionieren. Eine blonde Mutter mit Kinderwagen spaziert fröhlich plaudernd mit einem Schwarzen, der ebenfalls einen Kinderwagen schiebt. Auf Mountainbikes radeln ein junger Bio-Norweger und ein trainierter Afrikaner gemeinsam durch die Stadt.
Abgesehen von sichtbar prekären Alteingesessenen begegnet man in Oslo-Grønland nur Migranten.
Was in Oslo für den Besucher wie der wahrgewordene multikulturelle Traum wirkt, verkommt im Gespräch mit Einheimischen zu naturalistischen Schilderungen. „Es hat sich vieles zum Schlechten verändert“, äußert eine ältere Dame in Tracht. Die Aggressivität habe zugenommen, auch die Unsauberkeit. Die junge Fährschiff-Angestellte lächelt vielsagend: „Oslo ist eine große Stadt. Es gibt bessere und schlechtere Viertel. Gerade im Osten der Stadt passiert regelmäßig etwas.“
Ein solches Viertel ist das in der Innenstadt gelegene Grønland. Abgesehen von sichtbar prekären Alteingesessenen, begegnet man hier fast nur Afrikanern. Schwarze Mädchen schlendern vorbei, manche mit Kopftuch. Eine Niqab-Trägerin betritt ein afghanisches Geschäft neben einem arabisch gestalteten Einkaufszentrum. Aus einem Fenster hängt die Regenbogenfahne, auf der anderen Straßenseite die Flagge Palästinas. Ein Laden bietet zahlreiche schwarz-weiß-grüne Devotionalien an, darunter Haargummis, deren Erlös nach Palästina gespendet wird. Palästina-Plakate an Verteilerkästen rufen zur 1.-Mai-Demonstration auf.
Überhaupt: Vor dem Parlament protestiert ein Camp mit Fahnen gegen den israelischen „Völkermord“. Vor dem Hauptbahnhof steht ein mit riesiger Palästina-Flagge bemalter Holzpavillon, auf dem über einem Herz „Gaza“ zu lesen ist. Israel-Flaggen kann man hingegen in Oslo lange suchen. Schließlich: Kolonisierer sind immer die anderen, nicht man selbst.