Mehr als 500 Kilometer ist das Berliner Regierungsviertel vom Justizbezirk im nordbadischen Karlsruhe entfernt. Doch nicht selten sind beide Orte – zumindest thematisch – geradezu ineinander verwoben. Was im einen beschlossen, wird im anderen auf seine Rechtmäßigkeit hin überprüft – und zuweilen auch verworfen. Aktuell müssen die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts über das vor rund einem Jahr reformierte Wahlrecht befinden. Wie kaum eine andere Entscheidung wird sich der Karlsruher Spruch auch direkt auf den Bundestag auswirken.
Daß der zu aufgebläht ist, was sich auch negativ auf die parlamentarische Arbeitsfähigkeit auswirkt, bestreitet fast niemand. Künftig soll die Größe auf maximal 630 Abgeordnete gedeckelt werden, das sind über hundert weniger als aktuell. Doch um das „Wie“ der Verkleinerung ist ein heftiger Streit entbrannt. Das von der Ampel-Mehrheit beschlossene Wahlgesetz sieht vor, daß künftig Überhang- und Ausgleichsmandate gestrichen werden. Für die Anzahl der Sitze gilt also das reine Verhältniswahlrecht. Jede Partei bekommt so viele Mandate, wie ihr nach den Prozenten bei den Zweitstimmen zustehen.
Das hätte zur Folge, daß künftig Wahlkreissieger nur dann Abgeordnete werden können, wenn ihr Sitz vom Zweitstimmenergebnis gedeckt ist; diejenigen mit den schwächsten Erststimmen-Ergebnissen würden dann nicht in den Bundestag einziehen. Betroffen davon wären vor allem die Christsozialen, deren Mandatsträger meistens direkt gewählt sind. So empörte sich Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) in der Karlsruher Verhandlung. „In der ganzen EU gibt es keinen Staat, in dem ein gewählter Abgeordneter nicht ins Parlament kommt“, zitierte ihn die Legal Times Online.
Faktisch läuft das beschlossene neue Wahlrecht also auf ein reines Verhältniswahlrecht hinaus, das nur noch mit einzelnen personalisierte Elementen garniert wird. Die Vertreter der Koalition argumentierten dagegen, daß die Bedeutung und politische Legitimation der Wahlkreis-Abgeordneten ohnehin abnähmen. Mancher direkt gewählte MdB im derzeitigen Parlament sei mit lediglich zwanzig Prozent der Stimmen gewählt worden. Im übrigen gebe es auch aktuell bereits „verwaiste“ Wahlkreise; etwa wenn ein mit der Erststimme gewählter Politiker aus dem Bundestag ausgeschieden sei und das Mandat von einem Nachrücker auf der Landesliste übernommen werde.
Im Kampf gegen einen gemeinsamen Gegner kommt es zu ungewöhnlichen Allianzen. So ziehen etwa Linken-Grande Gregor Gysi und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt an einem Strang bei der Verteidigung der abgeschafften Grundmandatsklausel. Die besagt, daß eine Partei auch dann in Fraktionsstärke in den Bundestag ziehen kann, wenn sie zwar die Fünfprozenthürde nicht überspringt, aber mindestens drei Direktmandate über die Erststimmen erringt. Allen Streitenden ist gemeinsam, daß sie auf Tempo drücken. Ende Juni wollen die Parteien ihre Kandidaten für die Wahl 2025 aufstellen. Dann sollte klar sein, welches Wahlrecht gilt.