© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/24 / 26. April 2024

Nur geographisch in der Mitte
Thüringen wird als „Land der Extreme“ analysiert
Hans Krump

Thüringen mit seinen nur gut zwei Millionen Einwohnern schüttelt die Republik politisch immer wieder heftig durcheinander. Ob der erste Ministerpräsident der Linken, die sensationelle Wahl eines FDP-Kurzzeit-Regierungschefs oder ein Gottseibeiuns der AfD – das „Grüne Herz Deutschlands“, wie sich das waldreiche, kleinstädtisch geprägte Land gerne nennt, sorgt immer wieder für Schlagzeilen.

Martin Debes, lange Chefreporter der Thüringer Allgemeinen in Erfurt und seit neuestem beim Stern, hat im Vorfeld der drei Landtagswahlen im September in Thüringen, Sachsen und Brandenburg ein Buch („Deutschland der Extreme“) vorgelegt. In ihm versucht der gebürtige Jenenser (Jahrgang 1971) die geschichtlichen und politischen Besonderheiten des keineswegs neuen, sondern sehr alten Landes Thüringen herauszuarbeiten.

Im Einklang mit der fiebernden politischen Klasse sieht auch Debes die Wahl in Thüringen am 1. September 2024 als „bislang größten Härtetest der bundesrepublikanischen Demokratie“. Selbstredend blickt der Autor da nur auf die AfD („eine in großen Teilen extremistische Partei“), die mit hohen Umfragewerten im Osten das Establishment aufschreckt.

So verwundert es nicht, daß er das Szenario vor hundert Jahren beschwört, als „Bürgerliche erstmals Rechtsextremisten an der Macht beteiligten“. Angespielt wird auf den Pakt des konservativ-liberalen Parteienbündnisses „Thüringer Ordnungsbund“ 1924 mit der Vereinigten Völkischen Liste unter anderem der verbotenen NSDAP. Dieser Ordnungsbund aber war eine Reaktion auf das vorangegangene Linksaußen-Bündnis von SPD und USPD mit KPD-Duldung. 1923 gab es eine SPD-KPD-Koalition, gegen die die Reichsexekution verhängt wurde. Solche Gefahren von links in der heutigen Zeit gibt es beim Autor nicht. Überhaupt erklärt er den „Rechtsextremismus“ bei der AfD bzw. deren Landes- und Fraktionschef  Björn Höcke nicht, den sein Parteifreund Alexander Gauland als „Nationalromantiker“ versteht.

Martin Debes mit einer langen Ahnenkette in dem Land zelebriert sich als „Thüringologe“. Er will erklären, warum das Land von Luther, Goethe und Schiller, vom „Weimar“ der ersten deutschen Demokratie und dem KZ Buchenwald der Nationalsozialisten zum „Land der Extreme mit einer Linke-AfD-„Negativmehrheit“ im Parlament und einem ersten AfD-Landrat wurde. „Die Gründe reichen weit in die Geschichte zurück“, schreibt Debes. Lehrreich sind die Passagen, in denen er die Kleinstaaterei in Thüringen bis zum Ende der Monarchie 1918 seziert, die dem Land heute 17 Landkreise und fünf kreisfreie Städte bescheren. In Thüringen ließen sich heute „alle wichtigen Konfliktlinien der Bundesrepublik nachvollziehen“, meint Debes. Die Verwerfungen des letzten Jahrhunderts, die Enttäuschungen über gebrochene Versprechen nach der Wende und eigene illusorische Vorstellungen über eine solidarische und freie Gesellschaft wirkten in dem Land mit einer im Vergleich sehr niedrigen bundesdeutschen Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung besonders nach.

„Daß Höcke an der Macht beteiligt wird, erscheint ausgeschlossen“

Der Autor zeichnet die Ereignisse nach dem Ende der DDR 1990 chronologisch nach und porträtiert die maßgeblichen Figuren: Josef Duchac, der frühere Ost-CDU-Politiker, Bernhard Vogel, der gescheiterte Mainzer Ministerpräsident, Dieter Althaus, der seinen tödlichen Skiunfall lange verdrängte, die evangelische Pastorin Christine Lieberknecht oder den DKP-nahen Gewerkschafter Bodo Ramelow. Ins Zentrum rückt Debes die im Krimistil geschilderte Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich im Februar 2020 zum Ministerpräsidenten, nachdem die Ramelow-Koalition von Linken, SPD und Grünen bei der Wahl Ende 2019 die absolute Mehrheit verlor. Mit den Stimmen der AfD, die im dritten Wahlgang statt für ihren eigenen Kandidaten für den FDP-Politiker Thomas Kemmerich stimmten. Debes: „Erstmals seit der Niederlage des Nationalsozialismus haben sich bürgerliche Parteien für dieses Ziel vereinnahmen lassen.“ Drunter geht es nicht, wie der Autor eine demokratische Wahl beschreibt. Klar, daß mit dieser Sicht auch ein abgewählter Linken-Regierungschef ewig an der Macht bleiben muß.

Erkenntnisgewinnend sind gleichwohl die Passagen, in denen die vielen politischen Ränkespiele und Fehltritte führender Politiker geschildert werden, bis hin zur unübertroffenen Wendigkeit des CDU-Spitzenmanns Mike Mohring. Verknüpft mit dem oft amateurhaften einheimischen Polit-Personal wird klar, warum Politikern in Thüringen besonders viel Mißtrauen begegnet. Am Schluß kommt Debes ins Spekulieren über das Wahljahr 2024. „Daß Höcke an der Macht beteiligt wird, durch Tolerierung oder gar eine Koalition, erscheint ausgeschlossen.“ Unklar sei, wie sich der Antritt der Wagenknecht-Partei oder von Maaßens Werteunion auswirkten. Nur eins scheint gewiß: „Thüringen wird 2024 wieder die ganze Republik beschäftigen.“ Da ist dem Autor recht zu geben.

Martin Debes: Deutschland der Extreme. Wie Thüringen die Demokratie herausfordert. Verlag Ch. Links, Berlin 2024, 280 Seiten, 20 Euro