Als Litauens Staatspräsident Valdas Adamkus 2004 nach Görlitz kommt, um den Internationalen Brückepreis der deutsch-polnischen Doppelstadt entgegenzunehmen, überrascht er seine Gastgeber mit einem Bekenntnis: Er sei schon einmal hier gewesen, auf der Flucht vor der Roten Armee. Was der Litauer vor dem Görlitzer Rathaus nicht sagt, er war noch zwei weitere Male in der Stadt gewesen: ein weiteres Mal auf der Flucht, aber dazwischen, um 1944 in seiner Heimat gegen die Bolschewisten zu kämpfen. Der 17jährige Oberschüler hofft damals wie viele seiner Landsleute, sie könnten gemeinsam mit den Deutschen die anstürmende Rote Armee zumindest so lange aufhalten, bis das seinem Untergang entgegensehende Deutsche Reich um einen Waffenstillstand bitten oder die Westalliierten auf seiten der Balten eingreifen würden.
Die litauischen Politiker und die Soldaten der Schutzeinheiten schätzten die militärische und politische Lage im Vergleich zur realen Situation im Frühsommer 1944 völlig falsch ein, schreibt Regina Laukaitytė in ihrem in den Annaberger Annalen 28/2020 erschienenem Beitrag „Die letzten Monate der deutschen Okkupation in Litauen: Die Flucht der Litauer nach Deutschland 1944 und ihre politischen Vorstellungen“. So geben sich die litauischen Sozialdemokraten in einer Untergrundzeitung vom Januar 1944 optimistisch. Es bestehe kein Zweifel, daß Großbritannien „umsichtig auf den Moment wartet, an dem es mit einem mächtigen Schlag die Deutschen und die Sowjets in die Knie zwingen kann“. Und noch im Juni 1944 notiert General Povilas Plechavičius in einem Bericht an das Oberste Komitee zur Befreiung Litauens (Vyriausiasis Lietuvos Išlaisvinimo Komitetas/VLIK): „Die Deutschen werden die Front gegen die Russen mit aller Kraft halten, damit diese nicht nach Deutschland eindringen. (…) Die Deutschen werden sicherlich versuchen, eine Übereinkunft mit den Westmächten anzustreben.“ Ziel des litauischen Widerstands ist es, das Zeitfenster zwischen dem deutschen Rückzug und dem weiteren Vorrücken der Roten Armee zu nutzen, um wieder die Herrschaft über ihre Heimat zu übernehmen, die Westalliierten um Schutz zu bitten und bis dahin mit eigenen Einheiten die Sowjets aufzuhalten. Dafür steht die im Untergrund gegründete Litauische Freiheitsarmee (Lietuvos Laisvės Armija/LLA) bereit. Deren Strukturen bestehen noch aus der Zeit des Widerstands gegen die sowjetischen Besatzer 1940.
Deutsche Versuche, die Litauer 1943 nach dem Vorbild der beiden anderen baltischen Staaten für die Waffen-SS zu begeistern und eine litauische Legion der Waffen-SS aufzustellen, sind da bereits ins Leere gelaufen. Um so erstaunter sind die Besatzer, auf die Reaktionen, als General Plechavičius, Führer der in deutschen Diensten stehenden litauischen Milizeinheiten, seine Landsleute zu den Waffen ruft. Plechavičius, bewährt im Partisanenkampf gegen die Bolschewiki 1918 und später im litauisch-polnischen Krieg, gründet am 13. Februar 1944 mit Unterstützung aller – bis auf die kommunistische – litauischen politischen Untergrundorganisationen eine freiwillige Militäreinheit (Lietuvos vietinė rinktinė//LVR), die nur von litauischen Offizieren geführt das Land verteidigen soll.
Zum Stichtag am 16. Februar, dem litauischen Unabhängigkeitstag, melden sich nach unterschiedlichen Angaben zwischen 19.500 und 30.000 Mann. Der erfolgreiche Aufruf weckt sofort deutsche Begehrlichkeiten. Die Besatzer sehen plötzlich ein Mobilisierungspotential von 250.000 Mann für die Front und weitere 100.000 für die Kriegsproduktion im Reich. SS-Obergruppenführer und Polizeigeneral Friedrich Jeckeln fordert umgehend 70.000 bis 80.000 Mann für die Wehrmacht an, Feldmarschall Walter Model als Generalstabschef der Nordfront 15 Bataillone für den Schutz der Militärflughäfen, Adrian von Renteln, Generalkommissar für Litauen, Arbeitskräfte für Deutschland. Im Gespräch ist auch, einen Teil der litauischen Streitkräfte als Hilfspolizei der SS einzusetzen.
Plechavičius Truppen bestehen letztlich aus rund 10.000 Mann, gegliedert in 13 Bataillone zu je 750 Mann und ein Offiziersausbildungsbataillon in Marijampole. Als aber dem General befohlen wird, eine Mobilmachung für alle Litauer zu verkünden, weigert sich dieser, zumal die Männer auch außerhalb litauischen Gebietes eingesetzt werden sollen. Immerhin erzielt er einen Kompromiß. Die litauischen Verbände sollen fürs erste gegen sowjetische Partisanen und die polnische Heimatarmee (Armia Krajowa/AK) vorgehen, die auf litauischem Gebiet operieren.
Streit aus der Vorkriegszeit verhindert ein Bündnis mit Polen
Zuvor hatte die AK vergeblich versucht, die Litauer für eine Zusammenarbeit gegen die Deutschen, zumindest aber für einen Waffenstillstand zu gewinnen. Aber Plechavičius fordert einen Verzicht der Polen auf die von ihnen beanspruchte litauische Hauptstadt Vilnius (Wilna), Zankapfel zwischen den Staaten seit 1920, sowie eine Unterordnung der Polen beim Kampf gegen die Sowjets. Die Verhandlungen scheitern, und Anfang Mai beginnen die Sonderverbände eine großangelegte Anti-Partisanen-Operation. Sieben Bataillone werden gegen die Partisanen in der Region eingesetzt.
Parallel verschärfen sich die Spannungen zwischen dem litauischen Kriegsrat und dem deutschen Polizeichef. In einer Nachtaktion am 29. April 1944 nehmen die Deutschen fast den gesamten Führungsapparat des Befreiungskomitees fest.Plechavičius befiehlt seinerseits am 9. Mai den Kadetten der Abteilungsoffiziersschule in Marijampolė nach Hause zurückzukehren und seinen Bataillonen in der Region Wilna, die Feindseligkeiten gegenüber den AK-Streitkräften einzustellen und in die zugewiesenen Garnisonen zurückzukehren, was aber nicht befolgt wird.
Ein endgültiges Zerwürfnis deutet sich an, als sich die Litauer entgegen den Vereinbarungen plötzlich den regionalen deutschen Kommissaren unterstellen und zudem auf Weisung des SS- und Polizeichefs nicht mehr auf Litauen, sondern auf Adolf Hitler vereidigt werden sollen, was diese nicht akzeptieren, so daß die Zeremonie immer wieder verschoben, die Soldaten letztlich bis zur Auflösung der Truppe unvereidigt bleiben.
Derweil erleiden die litauischen Einheiten beim Dorfes Murowana Oszmianka in der Nähe von Grodno in der Nacht zum 14. Mai 1944 eine verheerende Niederlage gegen überraschend angreifende Polen. Diese verspotten ihren Feinde noch dazu, indem sie 184 Gefangene – nur mit langen Unterhosen und Helmen bekleidet – zurückschicken. Die Sondereinheiten verlassen gedemütigt und geschlagen das Gebiet Vorkriegslitauens. Der Versuch der Deutschen, die demoralisierten Litauer zu entwaffnen, gelingt ihnen nur bei vier der 14 Bataillone. Als deutsche Einheiten in Marijampole erscheinen, um die Kadetten zu entwaffnen, finden sie lediglich noch ein Dutzend Soldaten vor, die Widerstand leisten. Letztlich werden alle Einheiten aufgelöst, 200 Soldaten hingerichtet, 54 Offiziere, unter ihnen Plechavičius und sein Stabschef Oskaras Urbonas, vorübergehend im Konzentrationslager Salaspils in Lettland, 106 Kadetten in Stutthof bei Danzig und 983 Soldaten kommen nach Oldenburg in Kriegsgefangenschaft. Etwa 3.500 ehemalige Selbstschutz-Soldaten werden in deutsche Einheiten zwangsverpflichtet, mehrere Infanteriebataillone unter Oberst Birontas an die Ostfront geschickt.
Vergeblich versuchen die Deutschen im Juni und Juli abermals Litauer für Schutzkommandos zu mobilisieren. Der Wehrmacht gelingt es zwar noch einmal, den sowjetischen Angriff durch die Verteidigung von Wilna, Kaunas und Šiauliai (Schaulen) für einige Tage zu stoppen, zieht sich dann aber zurück, worauf die Rote Armee am 13. Juli Wilna und dann Schaulen erobert. Nach dem Vorstoß an die Memel und der Besetzung von Kaunas und Grodno bleiben die Russen aber plötzlich für mehrere Wochen stehen. Grund ist die Neuordnung des Nachschubes, aber die Litauer verbinden damit große Hoffnungen.
Es kehrt sogar ein Teil der Flüchtlinge aus Deutschland zurück, um die Verteidigung zu organisieren. Und nicht wenige litauische Politiker sind fest überzeugt, daß „die Deutschen der Roten Armee nicht erlauben werden, die Grenze nach Deutschland zu überschreiten und daß der Krieg mit einer diplomatischen Übereinkunft enden“ werde. „Auf der letzten Sitzung der Litauischen Front trösteten wir uns mit der Hoffnung, daß der Krieg bald zu Ende gehen wird und daß die westlichen Staaten nach einer Friedensvereinbarung mit Deutschland die Unabhängigkeit von Litauen, Lettland, Estland und Polen wiederherstellen werden“, schreibt Povilas Šilas, einer der Teilnehmer, in seinem Erinnerungen: „Noch im Mai und Juni 1944 glaubten wir, falls Litauen vorübergehend von der Roten Armee besetzt werden sollte, daß die Besetzung nur sehr kurz dauern wird, bestenfalls bis zur Friedenskonferenz, höchstens ein halbes Jahr.“
Kämpfe gegen die Sowjets enden erst in den fünfziger Jahren
Da es dem litauischen Widerstand nicht gelingt, das entstandene Machtvakuum zu füllen, sind es wieder die Deutschen, die die Litauer zum aktiven Widerstand gegen die Sowjets aufrufen: „Gemeinsam mit deutschen Soldaten im Kampf gegen den Feind! Die Pflicht der litauischen Männer und Frauen ist es, sich am Kampf zu beteiligen und das litauische Territorium gegen die sowjetischen Banden zu verteidigen“, hieß es in einem Aufruf vom 10. Juli 1944, also drei Tage vor der Rückeroberung von Wilna durch die Rote Armee. „Ergreift die Waffen! Das ganze litauische Volk – eine Armee gegen den Bolschewismus“, hieß es in einem anderen.
Als die Russen am 7. Oktober wieder antreten, versuchen litauische Schutzeinheiten und schwache deutsche Kräfte vergeblich, den Durchstoß bis zur Ostsee bei Seda aufzuhalten. Zwei Tage später stimmt Churchill in der Konferenz von Moskau der Wiedereingliederung Litauens einschließlich des Gebiets um Wilna in die Sowjetunion zu. Bis Ende Oktober hat die Rote Armee ganz Litauen unter ihrer Kontrolle und beginnt ihre Behördenstrukturen aus den Jahren der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik zu beleben. Die Litauer flüchten zu Tausenden in den Untergrund. Noch im November 1944 halten sich mehr als 30.000 in den Wäldern auf, um als Partisanen gegen die neuen Besatzer und ihre kommunistischen Kollaborateure zu kämpfen. Insgesamt schließen sich dem bewaffneten Widerstand etwa 100.000 Kämpfer an. Mit dem Kriegsende am 8./9. Mai 1945 sind diese Kämpfe noch nicht beendet, erst nach acht Jahren endet dieser „Krieg nach dem Krieg“.