Er war der findigste und innovativste politische Kopf seiner Epoche. Unaufhörlich entzündete Joseph Chamberlain (1836–1914) Leuchtfeuer, ließ Trompetenstöße erschallen und sprudelte vor Ideen. Zugleich aber erfüllte ihn ein dogmatischer Starrsinn, eine Kreuzzugsmentalität in seiner Mission, modernen Gedanken und Zielen zum Durchbruch zu verhelfen, deren Zeit noch nicht gekommen war.
Daran zerschellte nicht nur sein Lebens-traum, selbst einmal als Regierungschef die Fäden ziehen zu können. Daran verzweifelten auch alle seine politischen Freunde, die stets vergeblich um einen Kompromiß mit ihm rangen. Und daran scheiterten alle Regierungen, denen er angehörte. Er, als politisches Schwer-gewicht, sprengte sie mit seiner Dickköpfigkeit in die Luft und brachte die sie tragenden Parteien an den Rand der Auflösung: Zuerst die Liberalen um William Gladstone mit der von ihm vehement bekämpften Frage der Home Rule für Irland und dann die Konservativen um Robert Salisbury und Arthur Balfour in der Frage einer Schutzzollzone für das Empire, die die Wirtschaft ankurbeln und das Geld für die ihm vorschwebenden Sozialreformen bringen sollte.
Dabei hätten alle wissen müssen, worauf sie sich mit ihm einließen. Schon als junger Mann war er ein Radikaler, der gegen die Monarchie wetterte und vor allem gegen das Oberhaus und die dort sitzenden Aristokraten und Großgrundbesitzer. Diese „Erbkaste“, wie er sagte, „arbeitet und spinnt nicht und hat ihre großen Vermögen durch Besitzübertragung von Königen an ihre Höflinge“ erworben, nicht etwa durch Fleiß und Leistung.
Das zeigte schon, daß er ein Eindringling in die alte feudal bestimmte Welt war, in der er ein hochbegabter Leuchtturm und Außenseiter blieb. Anders als seine Kollegen war er weder Mitglied der anglikanischen Kirche, noch war er an einer exklusiven Privatschule oder an einer Eliteuniversität des Landes erzogen worden. An diesem untilgbaren Makel litt er jedoch zeitlebens. Und dieses Stigma war vermutlich die kompensatorische Ursache seiner nie versiegenden Energie, seines verzehrenden Ehrgeizes und der Grund für die Unruhe, die er ständig stiftete.
Obschon er ausgezeichnete Leistungen in der Schule vorweisen konnte, mußte er auf Anweisung seines Vaters mit 16 seine Ausbildung abbrechen und in das Familienunternehmen eintreten. 18 lange Jahre war er mit der Herstellung von Schrauben beschäftigt. Als er sich 1872 aus dem Betrieb zurückzog, erzeugte seine Fabrik zwei Drittel aller im Land hergestellten Stahlschrauben. Sie waren so blitzend, hart und glänzend, wie der Reichtum, den er sich erworben hatte und der ihm gestattete, seine Fähigkeiten auf den Gebieten zur Geltung zu bringen, die ihm wirklich am Herzen lagen: in der Politik und in der Sozialreform.
Nun wurde der Radikalismus sein politisches Streitroß und die Kommunalpolitik der Steigbügel, mit dem er sich in den Sattel schwang. Als Bürgermeister seiner Heimatstadt Birmingham kümmerte er sich um flächendeckende Gas- und Trinkwasserversorgung, um öffentliche Bäder und Waschanstalten. Er räumte mit den stinkenden Slums auf, an deren Stelle er moderne Sozialwohnungen errichten ließ, so daß in wenigen Jahren die Sterblichkeitsziffer in seiner Stadt um die Hälfte sank. Und er nahm sich der zerlumpten und barfuß durch die Straßen vagabundierenden Kinder an. Die allgemeine Schulpflicht und kostenlose Schul-ausbildung, die er einführte, waren wegweisend für ein Land, in dem die Hälfte der 4,3 Millionen Kinder im Jahre 1870 gar keine Schule besuchte und ein weiteres Drittel diese vorzeitig abbrach.
Im Kabinett warb er für ein Bündnis mit Deutschland
All dies bescherte ihm nicht nur eine ungeheure Popularität und eine treue Anhängerschaft, die ihm alles verzieh, auch den Wechsel von einer Partei zur anderen. Dies katapultierte ihn auch mit vierzig Jahren ins Parlament, wo er binnen vier Jahren zum Minister avancierte. Dabei sah er gar nicht wie ein Sozialreformer oder ein Freund der Arbeiter und Armen aus.
Wie seine Karriere war auch sein Erscheinungsbild eine Eigenschöpfung: dunkle Augen, die unergründlichen Glanz verströmten; pechschwarzes, pedantisch gescheiteltes Haar, elegante Überröcke, eine rote Krawatte, die durch einen goldenen Ring gezogen war, ein goldumrandetes Monokel am schwarzen Band, das ihm den Anstrich des Intellektuellen verlieh, und jeden Tag eine frische Orchidee im Knopfloch.
Einmal freilich ersetzte er die Orchidee durch eine rote Rose. Und das hing mit der Tragödie zusammen, die sein Privatleben überschattete. Er hatte mit 25 und noch einmal mit 30 Jahren seine Kusinen geheiratet. Aber beide Frauen waren im Kindbett bei der Geburt von Söhnen gestorben. Diese Todesfälle trafen ihn schwer, und seine Betriebsamkeit in der Politik war nur ein schaler Ersatz für das entgangene private Glück. Erst 1887, nachdem er durch seinen Austritt aus der Partei die liberale Regierung gestürzt hatte, war ihm das Schicksal wieder hold. Auf einer Reise in die USA traf der 51jährige bei einer Abendgesellschaft die 23jährige Tochter von Präsident Clevelands Kriegsminister. Er machte ihr sofort einen Antrag, den sie augenblicklich annahm. Als er mit ihr nach England zurückfuhr, trug er die rote Rose im Knopfloch.
Während er als Anwalt einer germanischen Achse im konservativen Kabinett vor der Jahrhundertwende beständig um ein Bündnis mit Deutschland warb, gewann die jugendliche Stiefmutter das Herz seiner beiden Söhne. Sie brachte die Familie wieder zusammen. „Sie schloß sein Herz auf, und wir konnten eintreten, wie nie zuvor“, gestand der Ältere bald.
Austen, der gemeinsam mit ihm seit 1892 im Parlament saß, erreichte zwischen 1924 und 1929 das Amt, das seinem Vater verwehrt blieb: das Außenministerium. Für seine dort erworbenen Verdienste bekam er 1925 sogar den Friedensnobelpreis. Und der jüngere, Neville, wurde 1937 sogar Regierungschef. Er verwirklichte den unerfüllten Lebenstraum seines Vaters, der am Vorabend der Kriegserklärung Englands an Deutschland, am 2. Juli 1914, gestorben war.
Prof. Dr. Rainer F. Schmidt lehrte Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Würzburg.