Nach dem Ende des Bahnstreiks müsse man über eine Reform des Streikrechts reden, ließen sich übereinstimmend Justizminister Marco Buschmann und Verkehrsminister Volker Wissing vernehmen. Nun, nachdem der Streik beendet ist, hört man davon nicht mehr viel. Aus den Augen, aus dem Sinn, wie leider üblich in der Politik. Aber die nächste Streikwelle kommt bestimmt, aktuell dürfen sich zum Beispiel bereits wieder die nordrhein-westfälischen ÖPNV-Kunden über stillstehende Busse und Bahnen dank Ver.di freuen. Grund genug, das Thema endlich einmal ernsthaft anzugehen. Anlaß und konkrete Vorschläge dazu gibt es mehr als genug.
Der Tarifeinigung kurz vor Ostern waren harte Auseinandersetzungen zwischen der Gewerkschaft der Lokführer (GdL) und der Bahn vorausgegangen, einschließlich fünf Streiks und mehrerer gerichtlicher Auseinandersetzungen. Dabei ging es vor allem auch um eine Verkürzung der Arbeitszeit. Auf 35 Stunden pro Woche wollte
Gewerkschaftschef Claus Weselsky sie verkürzt sehen – bei vollem Lohnausgleich, versteht sich. Am Ende kam wie immer ein Kompromiß heraus: Zwar sinkt die Regelarbeitszeit tatsächlich auf 35 Stunden, aber nur schrittweise bis 2029. Zudem können die Bahnmitarbeiter freiwillig weiterhin bis zu 40 Stunden arbeiten und bekommen dann auch mehr Geld dafür. Das klingt insgesamt vernünftig – aber hätte man sich darauf nicht schon viel früher und vor allem friedlich einigen können?
Rund 100 Millionen Euro kostet ein Bahnstreik in Deutschland nach einer Schätzung des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft – pro Tag! Und das gilt nur am Anfang, je länger der Streik andauert, desto teurer wird es. Schnell ist man dann bei Milliardenbeträgen, die aber zum größten Teil gar nicht bei der Bahn selbst anfallen. Denn betroffen sind vor allem ihre Kunden, etwa die vielen Pendler, die plötzlich nicht mehr pünktlich zur Arbeit kommen. Aber auch die Wirtschaft erleidet schwere Schäden, für die weder die Bahn noch die Gewerkschaft eine Haftung übernehmen. Waren können nicht mehr pünktlich ausgeliefert, Vorprodukte nicht mehr rechtzeitig geliefert werden. Schnell gerät so das komplizierte Räderwerk einer komplexen, arbeitsteiligen Gesellschaft ins Stocken. Ähnlich verhält es sich bei einem Streik der Fluglotsen oder des gesamten Flughafenpersonals. Gerade erst hat die Gewerkschaft Ver.di gezielt dort streiken lassen, um ihrer Tarifforderung für den Öffentlichen Dienst Nachdruck zu verleihen. Das schont die Streikkasse, denn es wird maximaler Druck mit geringstem Aufwand ausgeübt. „Ein ganzes Land wird in Geiselhaft genommen. Das kann und darf nicht sein“, sagt Gitta Connemann, Vorsitzende des Wirtschaftsrates der CDU. Ihre Organisation, die trotz ihres Namens parteipolitisch unabhängig ist, fordert denn auch eine Einschränkung des Streikrechts zumindest dort, wo kritische Infrastrukturen betroffen sind.
In der Tat kann von der im Arbeitskampfrecht eigentlich angestrebten Waffengleichheit kaum noch die Rede sein. Die ursprüngliche Idee war, daß die Arbeitgeber einem Streik mit Aussperrung begegnen können. Denn Ausgesperrte bekommen ebenso wie Streikende kein Gehalt mehr, sondern bestenfalls Streikgeld, falls sie Gewerkschaftsmitglied sind. Eine sich leerende Streikkasse erhöht somit den Druck, doch noch zu einer Tarifeinigung zu finden. Das Ganze funktioniert aber natürlich nicht mehr, wenn auf Kosten Dritter gestreikt wird und schon wenige Schlüsselbereiche ein ganzes Land lahmlegen können.
So kann es offensichtlich nicht weitergehen, und zwar nicht nur in kritischen Infrastrukturen wie Flughäfen oder bei der Bahn. Auch grundsätzlich paßt das aus dem 19. Jahrhundert stammende Streikrecht nicht mehr in die heutige Zeit. Damals gab es tatsächlich teilweise Hungerlöhne und weder Bürgergeld noch eine Arbeitslosenversicherung. Die Arbeitnehmer waren auf Gedeih und Verderb dem Wohlwollen der Unternehmer ausgeliefert, nur Gewerkschaften und die Option eines Arbeitskampfes gaben ihnen etwas Gegengewicht. Von solchen Verhältnissen sind wir heute aber meilenweit entfernt. Vielmehr ist das Organisationsinteresse der Gewerkschaften selbst, mitunter auch die Profilierungssucht ihrer Führer mittlerweile oft der maßgebliche Hinderungsgrund für eine schnelle Einigung. Wie sonst sollen sie auch Mitglieder an sich binden in einem Sozialstaat, der längst den Großteil ihrer früheren Funktionen an sich gerissen hat? „Wir könnten uns oft innerhalb weniger Stunden einigen“, plauderte vor ein paar Jahren ein Verhandlungsführer der Arbeitgeberseite aus. Aber den Gewerkschaften zuliebe würde man noch eine ganze Zeit Theater spielen, denn die bräuchten das, um vor ihren Mitgliedern als harte Kämpfer dazustehen. Mittlerweile scheint aber auch das nicht mehr auszureichen, der Streik droht vielmehr zum Selbstzweck zu werden. Wenn er nicht zur puren Nötigung degenerieren soll, bedarf es daher dringend einer Reform.
Das Streikrecht sei aber doch im Grundgesetz verankert, sagen seine Verteidiger. Das stimmt allerdings nur bedingt. Denn in dem einschlägigen Artikel 9 Abs. 3 GG wird eigentlich nur die Koalitionsfreiheit garantiert. Ein verfassungsrechtliches Streikrecht ist daraus erst durch die spätere Rechtsprechung abgeleitet worden. Und es gibt dafür durchaus auch Ausnahmen und Grenzen. So dürfen zum Beispiel Beamte grundsätzlich nicht streiken, um die Funktionsfähigkeit des Staates nicht zu gefährden. Das gilt selbst für Lehrer oder Förster, obwohl bei deren Ausstand gewiß nicht gleich die Welt untergehen würde. Auch während des geltenden Tarifvertrags darf nicht gestreikt werden (Friedenspflicht), und ebenso wenig wenn der Ausstand an der Gewerkschaft vorbei erfolgt (wilder Streik). Nicht vom Grundgesetz gedeckt sind auch Streiks zur Durchsetzung politischer Forderungen. Anders ist es bei sogenannten Warnstreiks, also kurzfristigen Arbeitsniederlegungen noch während der Verhandlungen. Sie waren früher umstritten, sind aber inzwischen durch höchstrichterliche Rechtsprechung erlaubt. Man sieht jedenfalls: Das gegenwärtige Streikrecht ist nicht in Stein gemeißelt. Wenn der Gesetzgeber wollte, könnte er es modifizieren, sogar ohne den Wortlaut des Grundgesetzes zu verändern.
Es gibt durchaus Erfahrungen mit Einschränkungen des Streikrechts und der Tarifautonomie. So sah sich schon in der Weimarer Republik der Staat zum harten Eingreifen genötigt. Ausufernde Arbeitsniederlegungen in Schlüsselindustrien bedrohten schon damals die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft. Mit den daraufhin eingeführten Zwangsschlichtungen und schließlich auch direkten staatlichen Lohneingriffen hat man allerdings keine guten Erfahrungen gemacht. Die Wut der Arbeiter richtete sich vielmehr jetzt gegen den Staat, bis schließlich unter den Nationalsozialisten mit Einheitsgewerkschaften ohnehin alles gleichgeschaltet wurde.
Besser waren die Erfahrungen in Großbritannien, wo Margaret Thatcher in den achtziger Jahren die Macht der Gewerkschaften brach. Das Streikrecht wurde zwar nicht grundsätzlich beschnitten, aber Mißbräuche wie etwa die gewaltsame Hinderung von Arbeitswilligen am Werkszugang wurden unterbunden. Seit 2023 gilt ein Gesetz, das die Aufrechterhaltung einer Mindestversorgung – etwa in Krankenhäusern und anderen kritischen Bereichen – zur Pflicht macht. Ähnlich ist es in Spanien und Italien, beides Länder, die früher durch Dauerstreiks und entsprechende ökonomische Kollateralschäden gekennzeichnet waren. Denn eines sollte auch den Gewerkschaftsmitgliedern klar sein, auf Dauer sind andauernde Arbeitskämpfe ein Negativsummen-Spiel: Die Lohnerhöhungen der einen Branche zahlen letztlich immer die anderen, hauptsächlich über steigende Güterpreise. Und insgesamt steht am Ende wegen der Produktionsausfälle eben für alle weniger Verteilungsmasse zur Verfügung. Zumindest das sollte man sich durch intelligentere Einigungsverfahren ersparen.
Anlaß dazu gibt es durchaus auch in Deutschland. Mit im Durchschnitt jährlich 18 ausgefallenen Arbeitstagen pro 1.000 Beschäftigten liegen wir zwar international im Mittelfeld. Daß es aber besser geht, zeigen etwa die Schweiz und Österreich: Dort war es nur ein einziger Arbeitstag im Mittel der Jahre 2012 bis 2021. Und auch die frühere Streik-Hochburg Großbritannien steht inzwischen mit nur 13 Tagen besser da als wir, ebenso wie die USA mit lediglich neun ausgefallenen Arbeitstagen. Was aber können wir konkret von diesen Ländern lernen?
Ein interessanter Ansatz ist zum Beispiel die sogenannte Pendelschlichtung. Dabei einigt man sich zunächst auf einen Schlichter, dem beide Seiten vertrauen. Wenn man nun in den Verhandlungen partout nicht mehr weiterkommen sollte, muß dieser entscheiden. Und zwar unterbreitet ihm jede Seite einen letzten Vorschlag im verschlossenen Briefumschlag, dessen Inhalt der Verhandlungspartner nicht kennt. Der Schlichter muß sich dann für einen der beiden Vorschläge entscheiden, weitere Verhandlungen, Streiks oder Kompromisse sind dagegen ausgeschlossen. Dieses auf den ersten Blick vielleicht merkwürdig anmutende Verfahren ist in Wahrheit äußerst raffiniert. Denn jede Seite ist dadurch praktisch gezwungen, einen einigermaßen vernünftigen Vorschlag in ihren Umschlag zu schreiben. Denn andernfalls wäre die Gefahr groß, daß der Schlichter sich für den – vermutlich ungünstigeren – Vorschlag der Gegenseite entscheidet.
Diese in den 1960er Jahren von Spieltheoretikern entwickelte Idee ist nicht nur genial einfach, sie funktioniert auch in der Praxis. Sowohl in den USA als auch in Großbritannien setzt man sie ein, und auch bei uns könnte sie helfen, unproduktive Arbeitskämpfe zu vermeiden. Wenn die Tarifparteien nicht alleine zur Vernunft kommen, sollte der Staat die Pendelschlichtung deshalb gesetzlich verankern. Und kritische Infrastrukturen sollten aus den genannten Gründen am besten gar nicht mehr bestreikt werden dürfen. Statt dessen könnte man hier vorgehen wie bei den Beamten und die Tariferhöhungen der jeweiligen Branche einfach übernehmen. Wer mehr verdienen will, hat im Gegensatz zum Staatsdienst ja sogar die Möglichkeit, den Arbeitgeber zu wechseln. Das nennt man übrigens Wettbewerb.
Prof. Dr. Ulrich van Suntum, Jahrgang 1954, Volkswirt, lehrte von 1995 bis 2020 als ordentlicher Professor für Volkswirtschaftslehre an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Er ist Autor der Bücher „Die unsichtbare Hand“ (1999) und „Masterplan Deutschland“ (2006).