„Vervielfältigung ist insofern ein Fortschritt, als sie die Verbreitung des Einfältigen ermöglicht.“
Karl Kraus
Er war populär, aber nicht gerade beliebt. Man kann durchaus sagen: Leichen pflasterten seinen Weg. Arthur Schnitzler erkannte um ihn eine „Wolke von Haß“, der Autor Hellmut Andics bescheinigte ihm die „Mentalität eines Prügelpolizisten“. Im übrigen war er klein und hat, seit einemUnfall in der Kindheit, auch noch gehinkt.
Doch er war ein Heiliger im Dienst der deutschen Sprache und ein Held im Kampf gegen das Metier, das sie besudelte: den Journalismus. Es war das verschmierte Meinungsgeschäft der „Pressbengel“, gegen das er in seiner 1899 gegründeten Zeitschrift Die Fackel zu Felde zog, bis ins Jahr 1936 hinein, also in die Tage, nachdem jener mörderische Komiker im deutschen Nachbarland die Macht erobert hatte und vor dessen Banalität er kapitulierte mit dem tödlichen Satz: „Mir fällt zu Hitler nichts ein.“
Das war der Sprach- und Kulturkritiker Karl Kraus, dem zu sonst allen etwas einfiel. Am 28. April 1874 geboren, also vor 150 Jahren, als neuntes Kind eines jüdischen Großbürgers aus Böhmen, herangewachsen in Wien, wollte er eigentlich Schauspieler werden, blieb darin jedoch eher glücklos. So studierte er Philosophie und Germanistik und landete wie viele andere mit dieser Studienkombination im Journalismus, zunächst als Korrespondent der Breslauer Zeitung. Das heißt: Er kannte den Betrieb von innen. Und er lernte ihn hassen mit all seinem großen satirischen Talent und seinem Feingefühl für die Sprache.
Er erledigte seine Gegner dadurch, daß er sie zitierte
In der Bibliothek meines Vaters stand der Band „Unsterblicher Witz“, ein Buch des Fischer-Verlags, das mich derartig in den Bann zog, daß ich beschloß, Journalist zu werden, denn es schien mir zu beweisen, daß Scharfsinn und mein eigener Hang zur Bösartigkeit durchaus für die gute Sache fruchtbar gemacht werden und überdies mit gewisser Berühmtheit beziehungsweise Verruchtheit verbunden sein konnte. Meine große Deutsch-Hausarbeit vor dem Abitur über Karl Kraus quoll derartig in die Breite, daß sie mein mißmutiger und eher fauler Deutschlehrer nur mäßig benotete.
Dabei brannte ich für diesen scharfzüngigen Polemiker und seinen Kampf gegen die Phrase und jene Lüge, die „aus dem Gedanken eine Ansicht“ schmiedet. Ja, noch heute ist er hochaktuell und er würde in dem, was wir „Haltungsjournalismus“ nennen, natürlich die absolute Haltungslosigkeit erkennen. Die Korruption, den Opportunismus, die Gesinnungslumperei. Selbst die Erzeugnisse für die sogenannten gebildeten Kreise, ach gerade die, wurden zur Zielscheibe. „Die intellektuelle Presse macht dem Schwachsinn des Philisters Mut und erhebt die Plattheit zum Ideale: so sind die Folgen meiner Tätigkeit unabsehbar.“ Wer denkt da nicht an das Kriegsgeschrei unserer diversen Leitartikler? Apropos Krieg: Das hier schleuderte Karl Kraus den Kriegspatrioten im Ersten Weltkrieg entgegen: „Als zum erstenmal das Wort ‘Friede’ ausgesprochen wurde, entstand auf der Börse eine Panik. Sie schrien auf im Schmerz: Wir haben verdient! Laßt uns den Krieg! Wir haben den Krieg verdient!“
Allein die Falschmünzerei, die mit dem Wort „demokratisch“ betrieben wird, würde seiner Fackel ganze Hefte füllen. Was für ein Irrsinn, die „demokratische Grundordnung“ dadurch zu schützen, daß man die Opposition ausschaltet und Kritik an der Regierung saktioniert, auch die „unterhalb der Strafbarkeitsgrenze“. Ein „Demokratiefördergesetz“ sowie der regierungsgesteuerte „Kampf gegen Rechts“ würden Kraus, der seine Gegner dadurch erledigte, daß er sie zitierte, vielleicht sogar langweilen, weil diese zu entleiben ein allzu leichtes Spiel wäre. Oder er würde zu seiner probaten Formulierung greifen: „Wer dazu etwas zu sagen hat, der trete vor und schweige.“
Ja, er war ebenso stolz auf seine „Erledigungen“, wie auf die Prozesse, die sie zur Folge hatten.
Ab und zu griff er freilich auch kräftig daneben, wie in seinen Invektiven gegen Franz Werfel oder gegen Heinrich Heine. Sein Diktum gegen meinen Hausgott Heine, daß er der deutschen Sprache das „Mieder so sehr gelockert habe, daß jeder Kommis an ihr herumfummeln“ konnte, war nur halb richtig. Die andere Hälfte war so falsch, daß sie seine ganze Polemik verdunkelte in der Schrift „Heine und die Folgen“. Aber der gute Henry aus Düsseldorf hat ebenso kräftig ausgeteilt. So scheute er sich nicht, dem Zeitgenossen Ludwig Börne dessen Lotterleben um die Ohren zu hauen, und beide, Juden, beschimpften sich gegenseitig als ganz üble Juden.
Karl Kraus verstand sich durchaus als Müllabfuhr im Pressebetrieb, eine Schwerstarbeit. Er wies nach, daß Verleger und Journalisten die Hand aufhielten für sogenannte „Pauschalien“, mit denen sich große Wirtschaftsunternehmen das Wohlverhalten der Zeitungen erkauften: Er konnte einen Zusammenhang zwischen Angriffen einer Zeitung auf ein Unternehmen und deren Erlöschen nach der Schaltung einiger Inserate durch dasselbe belegen. Klingt aktuell, oder?
Er war Essayist, Dichter, Stilkritiker, Polemiker, Satiriker, Aphoristiker von Gnaden. Von ihm stammt die hübsche Formulierung, daß „das Feuilleton die Kunst sei, auf einer Glatze Locken zu drehen“. Wie großartig allerdings diese Lockenpracht aussehen kann, wenn man Heine ist (aber nur dann!), das allerdings wollte er nicht wahrnehmen.
Zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs stellte er das Erscheinen der Fackel für ein paar Nummern ein, meldete sich erst Monate später: „In dieser großen Zeit, die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt …“ Zeilen, die so aktuell sind wie in jenen Tagen, als sie geschrieben wurden. Stattdessen arbeitete er an dem monumentalen Oratorium „Die letzten Tage der Menschheit“. Dieses ausufernde Opus magnum war eine „Tragödie in fünf Akten“ und 220 Szenen, getragen von zahllosen Rollen und Dutzenden von Sprachformen und Dialekten, an dem er bis 1922 die Blutmühlen an der Front beschrieb, aber vor allem die „Rückseite“, die Geschäfte dahinter, die Phrasendrescher und kriegsbesoffenen Leitartikler, eben das Lügenpack in den Zeitungen. Er griff zum wirksamsten aller Mittel: Er zitierte sie.
In Lesungen daraus beeindruckte er als Vortragskünstler. Ja, hier entfaltete er sein schauspielerisches und gestisches Genie. „Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.“
Elias Canetti erinnerte sich an die, die ihn erlebten: „Wenn er daraus vorlese, sei man wie erschlagen. Da rühre sich nichts im Saal, man getraue sich kaum zu atmen.“ Auch Thomas Mann konnte sich seiner Wirkung kaum entziehen: „Wer den Gegensatz von Geist und Kunst, von Zivilisation und Kultur irgendwann einmal begriffen hat, der wird sich von dem satirischen Pathos dieses Antijournalisten nicht selten sympathisch mitgerissen fühlen.“
Selbstverständlich war er von der eigenen Könnerschaft überzeugt
Obwohl er eine oft stürmische Beziehung zur böhmischen Baronin Sidonie Náderná von Borutin unterhielt, auf deren Schloß Janowitz viele seiner Werke entstanden, blieb er ein Einzelgänger und Eigenbrötler, der sich nachts, „wenn die Rotationen der Druckpresse schweigen“, an die Arbeit machte. Er hielt auch seine Verehrer auf Abstand und ließ verlauten: „Ich lese keine Manuskripte und keine Drucksachen, brauche keine Zeitungsausschnitte, interessiere mich für keine Zeitschriften, begehre keine Rezensionsexemplare und versende keine, bespreche keine Bücher, sondern werfe sie weg, prüfe keine Talente, gebe keine Autogramme, besuche keine Vorlesungen außer den eigenen …“ Und deren gab es viele, insgesamt 700, also genug Gelegenheiten für das Publikum, ihn zu erleben.
Unbestechlich war sein Blick vor allem, wenn es um orthographische oder sonstige Schlampereien ging. Während die Japaner Shanghai beschossen, saß er über einem Manuskript und redigierte, wobei er ganz besonders auf die Komma-Regel achtete. Zur Rede gestellt, antwortete er: „Hätten die Leute, die dazu verpflichtet sind, immer darauf geachtet, daß die Beistriche am richtigen Platz stehen, so würde Shanghai nicht brennen.“
Er wußte: „Wer unrein schreibt, der denkt auch unrein“ und „Die Menschen glauben immer noch, daß der menschliche Inhalt bei schlechtem Stil ein vorzüglicher sein könne und daß sich die Gesinnung ganz separat etabliere. Aber ich behaupte (…) daß nichts notwendiger ist, als solche Leute als Makulatur einzustampfen.“ Selbstverständlich war er von der eigenen Könnerschaft überzeugt. „Es gibt Schriftsteller, die schon in zwanzig Seiten ausdrücken können, wozu ich manchmal sogar zwei Zeilen brauche.“
Karl Kraus starb 1936 im Alter von 62 Jahren an den Spätfolgen eines lächerlichen Unfalls – ein Radfahrer hatte ihn umgestoßen. In seiner Wohnung erlag er einem Herzschlag.
Natürlich ist es ein Drama, daß es in dem gedruckten Schlick von heute keinen Karl Kraus mehr gibt. Der einzige Stil- und Sprachkritiker von Rang, der den regierungshörigen Claqueuren, die er „Maulwerksburschen“ nennt, ihre Phrasen um die Ohren haut, ist Michael Klonovsky in seinem Online-Tagebuch (www.klonovsky.de/acta-diurna). Er erledigt sie wie sein Vorgänger aus Wien. Indem er sie zitiert.
Das Karl Kraus Lesebuch: Herausgegeben von Hans Wollschläger, Wallstein Verlag, Göttingen 2024, gebunden, 452 Seiten, 34 Euro