Der Kreml-Kritiker Alexej Nawalny ist tot. Der Whistleblower und Wiki-leaks-Gründer Julian Assange ist noch am Leben. Dieser Unterschied ist festzuhalten, doch beide Fälle weisen auch beklemmende Parallelen auf und führen zu der Frage, wieviel der Einzelne, der das Monster der Macht herausfordert, riskieren kann und darf.
Mit der Einschätzung, daß Nawalny öffentlich zu Tode gequält worden ist, geht man kaum zu weit. Eine Vergiftung, die Verurteilung zu 19 Jahren Haft, zermürbende Schikanen im Gefängnis, die Verlegung in das Straflager „Polarwolf“ jenseits des Polarkreises – das ist mehr als genug, um selbst einen vitalen Mittvierziger an sein Ende zu bringen. Die Mehrzahl der Verurteilungen erfolgten wegen Unterschlagung und Veruntreuung, doch das besagt wenig. Hat ein System jemand als politischen Feind identifiziert, findet sich auch ein kriminelles Vergehen, das man ihm zuschreiben kann. Der Vorwurf, er sei ein Strohmann des Westens gewesen, ist in dem Zusammenhang unbeachtlich.
Es stieß auf wenig Verständnis, daß er im Januar 2021 aus Deutschland, wo er seine Vergiftung auskuriert hatte, nach Rußland zurückkehrte, wo er bei seiner Ankunft am Moskauer Flughafen umgehend verhaftet wurde. Doch die Entscheidung war nachvollziehbar. Ein Regimekritiker, der dauerhaft im Ausland lebt, wird zum Paradox. Er ist ja kein normaler Aus- oder Einwanderer, der anderswo sein Glück versucht, er ist ein politischer Exilant. Er zehrt von seinem Nimbus, der schwächer wird, je länger das Exil dauert. Das Exilland hofiert ihn, doch haben seine Gastgeber Erwartungen an ihn, die er erfüllen muß, wenn er im Spiel bleiben will. Er wird zum Zirkuspferd, das beklatscht und hinter vorgehaltener Hand bemitleidet wird.
Nawalny hat mit seiner Verhaftung gerechnet und sich gleichzeitig furchtbar verkalkuliert. Natürlich wußte er, daß Rußland kein Rechtsstaat ist, es nie war. Die Zustände in den Straflagern dürften sich nicht viel von jenen in der Zarenzeit unterscheiden, die Dostojewski, Tolstoi oder Tschechow so eindringlich beschrieben haben. Er setzte darauf, daß seine Popularität im Westen ihn schützen würde. Tatsächlich wurde seine Festnahme mit flammender Empörung quittiert. Seine Anhänger in Rußland veröffentlichten sofort ein Video über einen Protzpalast am Schwarzen Meer, der angeblich Putin gehört. In der Annahme offenbar, daß die Megalomanie des schlechten Geschmacks den Volkszorn hochkochen lassen und in Staat und Armee eine Palastrevolution auslösen würden und er, Nawalny, als Volksheld und mit der Märtyrer-Krone auf dem Haupt in die politische Arena zurückkehren würde.
Spätestens mit dem Ukraine-Krieg hatten sich solche Kalkulationen erledigt. Der Westen brach alle Brücken nach Moskau ab und verfügte nun weder über Druckmittel noch Lockspeisen, die Moskau veranlassen konnten, Nawalnys Los zu erleichtern. Der war jetzt endgültig vom politischen Subjekt zum Demonstrationsobjekt geworden. Putin führte an ihm vor, daß westliche Pressionen ihn völlig unbeeindruckt ließen und keinerlei Wirkung auf die Verhältnisse in Rußland hatten. Für den Westen war er das perfekte Exempel, an dem sich die Grausamkeit Rußlands aufzeigen ließ, ein Propaganda-Maskottchen, das auf der Sicherheitskonferenz in München, auf der es vor allem um die Unterstützung des Westens für die Ukraine ging, posthum von seiner Ehefrau vertreten wurde. Die politische Bewirtschaftung des Martyriums ging ungerührt weiter.
Der Ruhm, den er im Westen genießt, bleibt eine Melange aus Heuchelei, Sentimentalität und kalter Berechnung, solange Julian Assange nicht als sein Pendant begriffen wird. Er hatte 2010 auf WikiLeaks Kriegsverbrechen der US-Armee im Irak aufgedeckt. Außerdem verbreitete er auf der Internetplattform mehr als 250.000 vertrauliche Dokumente von US-Botschaften in aller Welt und machte publik, daß der US-Geheimdienst NSA auch Bundeskanzlerin Angela Merkel ausspionierte, was weder dem Bundesnachrichtendienst noch dem Verfassungsschutz aufgefallen war. Hätte seine Aktion sich gegen Putin gerichtet, wäre er zum Freiheitskämpfer ausgerufen worden. So aber leiteten die US-Behörden Ermittlungen gegen ihn ein, und hochrangige amerikanische Politiker stießen Todesdrohungen gegen ihn aus.
Punktgenau stellte die schwedische Staatsanwaltschaft gegen ihn einen Haftbefehl wegen angeblicher Vergewaltigungen aus. Es ging um zunächst einvernehmlichen, dann weniger einvernehmlichen Sex mit zwei Frauen, und um ein gerissenes Kondom, an dem sich jedoch keine DNA fand. Assange, der australischer Staatsbürger ist, wehrte sich von Großbritannien aus gegen die Auslieferung nach Schweden, weil er fürchtete, von dort an die USA weitergereicht zu werden. Er wurde bis zum Entscheid über seine Auslieferung bedingt in Freiheit gelassen. Am 19. Juni 2012 flüchtete er in die Botschaft Ecuadors in London, wo er auf knapp 20 Quadratmetern ohne jeden Auslauf lebte. Die Botschaft verfügt über keinen Garten, vor der Tür wartete die Polizei. Zwar ließ die schwedische Justiz den Haftbefehl im Mai 2017 fallen, doch die britischen Behörden teilten mit, man werde Assange festsetzen, weil er gegen Bewährungsauflagen verstoßen habe. Im April 2019, nach sieben Jahren, wurde er aus der Botschaft verwiesen, festgenommen und sitzt seitdem unter strengen Bedingungen im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in London. Er wehrt sich juristisch gegen seine Auslieferung an die USA. Er fürchtet, dort den Rest des Lebens hinter Gittern verbringen zu müssen.
Der ehemalige Sonderberichterstatter der Uno für Folter, der Schweizer Nils Melzer, hat Assange im Gefängnis besucht, hat Akten eingesehen und sich in mehreren Interviews und in einem Buch („Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung“, Piper Verlag, München 2021) zu der Affäre geäußert. Er kommt zu dem Schluß, daß Julian Assange „psychischer Folter ausgesetzt“ worden sei. Die Anklage wegen Vergewaltigung sei von Anfang an eine Intrige gewesen sei. Die Frauen, die zur Polizei gegangen waren, hatten Assange gar nicht anzeigen, sondern nur einen HIV-Text von ihm erzwingen wollen. Zitat: „Die Polizei kommt auf die Idee, daß dies eine Vergewaltigung sein könnte, und erklärt die Sache zum Offizialdelikt. Die Frau weigert sich, das zu unterschreiben, geht nach Hause (…). Zwei Stunden später steht es in der Zeitung. Wie wir heute wissen, hat die Staatsanwaltschaft es der Presse gesteckt. Und zwar ohne Assange überhaupt zu einer Stellungnahme einzuladen. Und die zweite Frau, die laut Schlagzeile vom 20. August ebenfalls vergewaltigt worden sein soll, wurde erst am 21. August überhaupt einvernommen.“
Interessant ist auch, wie die Wokeness-Ideologie und imperiale Interessen in einer Symbiose zusammenfinden. Im Interview mit dem Schweizer Digital-Magazin Republik zog Melzer ein dystopisches Resümee: „Vor unseren Augen kreiert sich ein mörderisches System. Kriegsverbrechen und Folter werden nicht verfolgt. Youtube-Videos zirkulieren, auf denen amerikanische Soldaten damit prahlen, gefangene irakische Frauen mit routinemäßiger Vergewaltigung in den Selbstmord getrieben zu haben. Niemand untersucht das. Gleichzeitig wird einer mit 175 Jahren Gefängnis bedroht, der solche Dinge aufdeckt. Er wird ein Jahrzehnt lang überzogen mit Anschuldigungen, die nicht nachgewiesen werden, die ihn kaputtmachen. Und niemand haftet dafür. Niemand übernimmt die Verantwortung. Es ist eine Erosion des Sozialvertrags.“ Nicht von Rußland ist die Rede – dort hat man den Vertrag gar nicht erst geschlossen –, sondern von den USA, von Großbritannien, von Schweden, von Australien, das seinen Staatsbürger im Stich ließ. Gemeint ist der Wertewesten überhaupt inklusive der wertebasierten Bundesrepublik. Wenigstens ist der australische Ministerpräsident Anthony Albanese mittlerweile zu der Auffassung „genug ist genug“ gelangt und hat die USA ersucht, die Strafverfolgung einzustellen.
Im sonst so empörungsfreudigen Deutschland herrscht, von Ausnahmen abgesehen, Schweigen. Assange sei ja gar kein Journalist, der entsprechende Privilegien geltend machen könnte, sondern bloß ein Aktivist, heißt es. Das war Nawalny auch. In der FAZ mokierte sich der Rezensent des Melzer-Buches, daß „einige Passagen angesichts des Vorgehens der russischen Regierung gegen Alexej Nawalny (...) schlecht gealtert (sind). Das betrifft etwa jene Ausführungen, in denen Melzer sich lobend über den russischen Propagandasender RT und dessen anhaltendes Interesse für den Fall Assange äußert.“ Das Muster kennt man: Weil der Klassenfeind sie ausspricht, werden unbequeme Tatsachen als Feindpropaganda abgestempelt. Russia Today hat lediglich aus dem Versagen westlicher Medien ein Geschäftsmodell gemacht.
Wie Nawalny ist auch Assange ein Demonstrationsobjekt. Das Imperium macht an ihm deutlich, daß an seinem steifen Arm verhungert, wer die Grenzen seiner Spielwiese übertritt. Für Rußland ist er ein Beispiel, daß der Westen selber praktiziert, was er der russischen Führung vorwirft. Rußland kann sogar einen moralischen Vorteil einstreichen, weil es, statt Rechtsstaatlichkeit zu heucheln, sich offen zum Maßnahmenstaat bekennt, in dem das Recht der politischen Zweckmäßigkeit gehorcht.
Keiner der beiden hat den Behemoth der Macht, gegen den er antrat, ins Wanken gebracht. Beide haben die Kontrolle über ihr Schicksal verloren, und ihre radikale Rebellion wird nur deshalb von dritter Seite goutiert, weil sie sich gegen den jeweils anderen instrumentalisieren läßt. Lohnt sich das noch? Zwischen dem Widerstand ohne Sicherheitsnetz einerseits und totaler Unterwerfung andererseits muß es einen dritten Weg geben.
Der Tod des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny und die endlose Justizfarce um den Whistleblower Julian Assange geben Anlaß, darüber nachzudenken, wie weit der Widerstand des Einzelnen gegen herrschende Ungeheuer gehen soll, wieviel man riskieren, sich zumuten soll, wieviel Einsatz sich lohnt.
Was immer die konkreten Umstände von Nawalnys Tod im Straflager waren, ist er doch öffentlich zu Tode gequält worden. Es wäre kleinlich aufzuzählen, welche politisch inkorrekten Äußerungen ihm zuzuschreiben sind oder ob nicht an den Anklagen gegen ihn etwas dran war. Das Muster ist doch bekannt: Hat man den politischen Verbrecher erst einmal dingfest gemacht, wird sich schon ein kriminelles Vergehen finden, das man ihm anhängen kann. Man muß nur lange genug suchen.