Als Odysseus auf der Rückreise vom Trojanischen Krieg die Insel Li Galli passierte, ließ er sich an den Mast binden. Seinen Matrosen befahl er, sich Wachs in die Ohren zu stopfen. Denn die dort wohnenden Sirenen pflegten mit ihren verführerischen Gesängen vorbeikommende Schiffe auf die Klippen zu locken und dort zerschellen zu lassen. Die Selbstbindung funktionierte, der Held konnte unbeschadet die Meerenge durchfahren. Diese Geschichte ist zum Sinnbild eines Verfassungsprinzips geworden. Denn auch Politiker in demokratischen Systemen sind permanent der Versuchung ausgesetzt, für kurzfristige Wahlerfolge langfristig unvernünftige Dinge zu tun. Darum können in der Verfassung festgelegte Grundsätze entweder gar nicht oder nur mit qualifizierter Mehrheit geändert werden.
„Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen“
So ist es auch mit der Schuldenbremse, die 2009 in Artikel 109 und Artikel 115 ins Grundgesetz aufgenommen wurde. Nach kurzer Übergangsfrist darf das Haushaltsdefizit im Bund nur noch maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen. Den Ländern ist die Aufnahme neuer Schulden im Prinzip ganz verboten. Lediglich zum Ausgleich konjunktureller Schwankungen oder für „Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen“ sind zeitlich streng begrenzte Abweichungen von dieser Grundregel zugelassen. Einige Bundesländer haben die Schuldenbremse seitdem sogar in die eigene Landesverfassung aufgenommen.
Vorbild war die Schweiz, die mit ähnlichen Regelungen gute Erfahrungen gemacht hatte. Dagegen ist in Deutschland die staatliche Schuldenquote permanent gestiegen und lag 2010 bei 82 Prozent, deutlich über den laut Maastrichter Kriterien erlaubten 60 Prozent. Nach Einführung der Schuldenbremse konnte diese Entwicklung tatsächlich gestoppt und sogar leicht umgekehrt werden. Aktuell beträgt die gesamtstaatliche Verschuldung trotz Corona, Ukrainekrieg und Energiekrise nur noch 64 Prozent, wovon zwei Drittel auf den Bund entfallen. Auf den ersten Blick scheint sich die Schuldenbremse also auch bei uns bewährt zu haben.
Aber der Schein trügt, wie der Bundesrechnungshof (BRH) jetzt in einer schonungslosen Stellungnahme zur Finanzplanung der Ampel-Regierung vorgerechnet hat. So sind etwa die 100 Milliarden „Sondervermögen“ für die Bundeswehr im offiziellen Schuldenstand gar nicht enthalten. Die damit verbundene Kreditaufnahme wurde nämlich nicht mit der Notklausel der Schuldenbremse legitimiert, sondern durch einen eigens dafür neu in das Grundgesetz eingefügten Artikel 87a.
Zudem dürften die Mittel des Sondervermögens 2028 ausgeschöpft sein, so der BRH. Um danach das von der Nato vorgegebene Zwei-Prozent-Ziel der Verteidigungsausgaben zu erreichen, müßte daher der Verteidigungshaushalt massiv aufgestockt werden, von bisher veranschlagten 52 Milliarden auf dann 75 bis 85 Milliarden. Dafür wurde aber in der mittelfristigen Finanzplanung bisher keinerlei Vorsorge getroffen, monieren die Rechnungsprüfer. Zusätzlich müssen dann die aufgenommenen Kredite schrittweise getilgt werden, was den Haushalt noch einmal um 3,2 Milliarden Euro pro Jahr belasten würde.
Damit aber nicht genug, denn ähnliches gilt auch für die vom Bund in der Corona-Zeit aufgenommenen Notlagenkredite, für die noch einmal gut neun Milliarden Euro Tilgungslasten pro Jahr anfallen dürften. Und obendrein werden auch die von der EU aufgenommenen Kredite für den sogenannten Wiederaufbaufonds demnächst fällig, woran Deutschland ebenfalls erheblich beteiligt ist. 2028 wird laut BRH daher ein „Schlüsseljahr“ für die Bundesfinanzen werden mit zusätzlichen Belastungen, die in der aktuellen Schuldenquote nicht oder nur unzureichend abgebildet sind. Er sieht daher das „Transparenzgebot von Haushaltsklarheit und -wahrheit“ in Christian Lindners aktueller Finanzplanung nicht erfüllt.
Schon im November vergangenen Jahres hatte das Bundesverfassungsgericht den Tricksereien der Ampel in seinem bahnbrechenden Urteil einen Riegel vorgeschoben. Die Regierung hatte nämlich versucht, ursprünglich als Notlagenkredite aufgenommene Mittel in späteren Jahren für ganz andere Zwecke zu verwenden. Das aber widerspricht klar den Regeln der Schuldenbremse, die ansonsten beliebig umgehbar wäre. Wenig überraschend mehren sich daher aktuell wieder die Stimmen, welche die lästige Schuldenbremse abschaffen oder zumindest „flexibilisieren“ wollen.
Die zusätzlichen Zinsausgaben belasten künftige Generationen
Selbst der Sachverständigenrat hat dazu in einem „Policy-Brief“ Anfang des Jahres einige, wenn auch vorsichtige, Vorschläge gemacht. Insbesondere könne man doch bei niedrigem Schuldenstand etwas höhere und dafür bei hohem Schuldenstand niedrigere Haushaltsdefizite zulassen, meinen die Wirtschaftsweisen. Ähnlich hatte sich auch die Bundesbank geäußert. Der BRH hält davon allerdings gar nichts und verweist auf die zusätzlichen Zinslasten. Die Zeiten, in denen der Staat sich praktisch zum Nulltarif verschulden konnte, sind nämlich inzwischen vorbei. Hatte die Zinslast des Bundes 2021 nur 3,9 Milliarden Euro betragen, so ist sie inzwischen mit knapp 38 Milliarden bereits knapp zehnmal so hoch.
Dabei profitiert Deutschland sogar derzeit noch von seiner guten Bonität, woran auch das Ifo-Institut und das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim (ZEW) kürzlich mahnend erinnert haben. Eine Aufweichung der Schuldenbremse könne diesen Standortvorteil beeinträchtigen, warnen auch die BRH-Prüfer. Und überhaupt: Schulden schafften ja nicht wirklich neue Handlungsspielräume, sondern verschieben Lasten nur in die Zukunft, wo sie mit zusätzlichen Zinsausgaben künftige Generationen belasten. Das allerdings ist den heute um ihre Wiederwahl besorgten Politikern in der Regel egal. Und genau deswegen dürfe man an der Schuldenbremse nicht rütteln, meint der BRH: „Schulden lösen damit nur scheinbar Probleme, sondern schaffen neue“.
Prof. Dr. Ulrich van Suntum lehrte von 1995 bis 2020 VWL an der Wilhelms-Universität Münster. BRH-Stellungnahme zu „Risiken und Fluchten beenden – Rahmenbedingungen für eine durchgreifende Konsolidierung des Bundeshaushalts“: www.bundesrechnungshof.de