© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/24 / 26. April 2024

„Viel schlimmer, als ich es damals prognostiziert habe“
Interview: An der großen JF-TV-Dokumentation „Migration ohne Grenzen“ hat auch Thilo Sarrazin mitgewirkt. Warum und was die Antworten auf die aktuell wichtigsten Fragen zur wieder steigenden Masseneinwanderung sind, verrät er im Interview
Moritz Schwarz

Herr Dr. Sarrazin, warum steigt die Zahl der Asylanträge in Deutschland seit 2020 wieder so stark an? 

Thilo Sarrazin: Deutschland ist nach wie vor für jeden offen, der an seine Grenzen kommt und das Wort „Asyl“ ausspricht. Damit erwirbt er ein Aufenthaltsrecht. 

2015 gab es über 470.000 Asylanträge. 2020 war ihre Zahl auf 120.000 gesunken. Im vergangenen Jahr lag sie schon wieder bei 350.000. Wie geht das weiter?  

Sarrazin: Nach geltendem Recht liegt die Höhe des Zustroms nicht in unserer Hand. Ich rechne damit, daß die Zahlen weiterhin hoch bleiben und eher steigen als fallen.

Zwar schlagen Bürgermeister und Landräte regelmäßig Alarm, daß die Vielzahl der Einwanderer Kommunen und Kreise überfordert, dennoch ist die Stimmung bezüglich Einwanderung im Land nicht zu vergleichen mit der, die 2015 aufkam. Warum nicht? 

Sarrazin: Die ungelösten Probleme rund um Migration haben die Stimmung im Land deutlich geprägt. Die beiden einwanderungskritischen Parteien AfD und Bündnis Sahra Wagenknecht kommen in den aktuellen Umfragen bundesweit auf 23 bis 25 Prozent, in Sachsen und Thüringen, wo im Herbst gewählt wird, sind es gar 44 bis 45 Prozent. Die regelmäßigen Hilferufe von Bürgermeistern und Landräten wirken allerdings hilflos. Denn sie ändern ja nichts, und das haben viele Bürger gemerkt.

2015 räumte der heutige Intendant der ARD Kai Gniffke, damals Chefredakteur der „Tagesschau“, gegenüber dem „Focus“ eine verzerrte Berichterstattung ein: „Wenn Kameraleute Flüchtlinge filmen, suchen sie sich Familien mit kleinen Kindern und großen Kulleraugen aus.“ Obwohl „80 Prozent der Flüchtlinge junge, kräftig gebaute, alleinstehende Männer sind“. Zum gleichen Ergebnis kam 2017 eine Studie der Hamburger Media School und der Uni Leipzig im Auftrag der Otto-Brenner-Stiftung. Der Leiter der Studie, Michael Haller, sagte damals im JF-Interview, daß die Resultate „auf tiefgehende Dysfunktionen in unserem Mediensystem verweisen“. Haben die Medien daraus gelernt oder wiederholen sie ihre Fehler? 

Sarrazin: Die öffentlich-rechtlichen Medien, aber auch viele linksliberal und grün orientierte Presseorgane, haben massiv an Vertrauen und Reichweite verloren. Ein großer Teil der dort tätigen Journalisten hat sich jedoch leider ideologisch so verstrickt, daß ihnen die Fähigkeit zur unbefangenen Betrachtung der Wirklichkeit bei Migration und Asyl weitgehend verlorengegangen ist. 

Einen kritischen Blick auf die Situation, wie sie wirklich ist, setzt dem die neue JF-Dokumentation „Migration ohne Grenzen“ entgegen – an der Sie freundlicherweise mitgewirkt haben. Warum? 

Sarrazin: Weil die Ausrichtung der deutschen Politik in Sachen Migration und Asyl für mich  – nach der Sicherung des Friedens und noch vor der Bekämpfung des Klimawandels – die zentrale Zukunftsfrage ist. Warum, das habe ich ja bereits ausführlich in meinem Buch „Der Staat an seinen Grenzen. Über Wirkung von Einwanderung in Geschichte und Gegenwart“ von 2020 dargelegt.  Und deshalb leiste ich bei diesem Thema meinen Beitrag zur Meinungsbildung und Sachaufklärung, wo immer ich kann.

Der Film dokumentiert eine „stille Migration“: Statt aufrüttelnder „Völkerwanderungs“-Bilder wie 2015 vollzieht sie sich nun unauffällig in Gestalt eines routinierten Pendelverkehrs von Schleuser- und Seenot­rettungsschiffen, die die Menschen zum Beispiel bis Lampedusa bringen, von wo sie dann nach Sizilien oder Festlandeuropa eingeschifft werden. Der Chef der europäischen Grenzsicherungsbehörde Frontex Hans Leitjens sagt dazu: „Nichts kann Menschen davon abhalten, eine Grenze zu überqueren, keine Mauer, kein Zaun, kein Fluß und auch kein Meer.“ Ist das wirklich so?

Sarrazin: Diese Ansicht ist für mich ein achselzuckender Defaitismus, der die Völker und Gesellschaften Europas ungerührt ihrem Schicksal überläßt und den ich überhaupt nicht teile. Denn natürlich können wir unsere Grenzen wirksam gegen unerwünschte Einwanderung schützen. Die materiellen Ressourcen dazu haben wir. Es ist also allein eine Frage des politischen Willens und der entsprechenden Gestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen. 

Eine Möglichkeit wären die sogenannten „Pushbacks“ – 2021 übrigens „Unwort des Jahres“ –, also „staatliche Maßnahmen, bei denen migrierende Menschen zurückgeschoben werden, ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen“, wie sie das Europäische Menschenrechtszentrum definiert. Jedoch sind diese illegal. Zu Recht oder sollte man dem Vorbild der australischen „No way“-Politik folgen, die genau darauf basiert?

Sarrazin: Wenn Sie in Berlin in einen angesagten Club wollen und der Türsteher läßt Sie nicht rein, dann müssen Sie eben draußen bleiben: Der Club übt sein Hausrecht aus. Und genauso muß es jedem Staat oder im Falle der EU einer Staatengemeinschaft möglich sein, das „Hausrecht“ auszuüben, also wirksam zu steuern, wer einreisen darf und ein Aufenthaltsrecht bekommt. Wo geltendes Recht dem entgegensteht, muß man das eben ändern.

Sie haben sich nicht nur in „Der Staat an seinen Grenzen“, sondern bereits in „Deutschland schafft sich ab“ intensiv Gedanken über die Auswirkung von Massenmigration auf die Gesellschaft gemacht. Da Sie, wie Sie eingangs sagten, damit rechnen, „daß die Zahlen hoch bleiben und eher steigen als fallen“: Wo liegt nach Ihrer Einschätzung die Kapazitätsgrenze? Wann ist Deutschland tatsächlich so überfordert, daß es zu einer gravierenden gesellschaftlichen Dysfunktionalität kommt? 

Sarrazin: Die Metapher „Das Boot ist voll“ führt in Migrationsfragen nicht wirklich weiter, denn es paßt immer noch jemand rein. Vor 1.100 Jahren, zur Zeit seiner sächsischen Könige, der Ottonen, hatte Deutschland vier Millionen Einwohner. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren es 15 Millionen, gegenwärtig sind es 85 Millionen und auch bei 130 Millionen würde unsere Zivilisation nicht zusammenbrechen. Entscheidend ist, was wir Deutschen und Europäer wünschen, ob wir ethnisch und kulturell weiter in unserer abendländischen Tradition leben wollen. Wenn ja, dann müssen wir kulturfremde Einwanderung aus Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten strikt begrenzen. Der neue, sich massenhaft ausbreitende Antisemitismus zum Beispiel ist überwiegend ein Einwanderungsphänomen.

Zusammenbrechen wird die Gesellschaft natürlich nicht, aber wer zahlt denn die Zeche einer verfehlten Migrationspolitik? 

Sarrazin: Die Kosten einer ungesteuerten Masseneinwanderung tragen überwiegend die sogenannten kleinen Leute. Denn bei ihnen wächst die Konkurrenz um die einfachen Arbeitsplätze, sie leiden unter dem Mangel an günstigen Wohnungen. Ihre Kinder leiden in Schulklassen, in denen kaum noch jemand deutsch spricht, und sie gehören zu den bevorzugten Opfern einer wachsenden Ausländerkriminalität. Wer Geld hat, zieht sich in die Villenviertel der Vorstädte oder in Altbauwohnungen mit hohen Decken in angesagten Gründerzeitvierteln zurück und schickt seine Kinder nur auf ausgewählte Schulen. Den Wohlhabenden und Reichen fällt es viel leichter, sich den negativen Folgen einer ungesteuerten Masseneinwanderung zu entziehen, ihre Toleranz wächst mit der Distanz zum Problem.

Welchen Umfang müßte Einwanderung haben, um in einem optimalen Kosten-Nutzen-Verhältnis zu stehen.   

Sarrazin: Es geht weniger um Zahlen als um Qualität: Weitere Masseneinwanderung aus der islamischen Welt sehe ich aus kulturellen Gründen grundsätzlich kritisch, wie ich ja schon ausführlich in meinem Buch „Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“ dargelegt habe. Und junge Männer ohne Schulabschluß und Berufsausbildung aus Subsahara-Afrika bringen uns auch nicht weiter. Aber indische Software-Ingenieure, thailändische Elektriker oder vietnamesische Krankenschwestern sollten uns jederzeit willkommen sein. Einwanderer sollten qualifiziert und kulturell integrationswillig sein. Dann ist ihre Zahl nicht so entscheidend. Entscheidend ist, daß sie die Lücken, die das Ausscheiden der Babyboomer aus dem Erwerbsleben in den kommenden Jahren reißt, mit ihren Qualifikationen ausfüllen können. Dann sind auch 100.000 oder 200.000 jährlich zu verkraften.

Nach der Bundestagswahl im kommenden Herbst wird es voraussichtlich zu einer Bundesregierung unter Führung der CDU kommen, die zuvor im Wahlkampf erfahrungsgemäß viele Versprechungen zum Thema Migration machen wird. Was aber wird wirklich von ihr zu erwarten sein?

Sarrazin: Ein Bundeskanzler Friedrich Merz ist sicherlich auch bei den Themen Migration und Asyl veränderungswillig. Er wird aber auf die Grünen oder die SPD als Koalitionspartner angewiesen sein. Auch müssen wir bedenken, daß die rechtlichen Rahmenbedingungen von Migration und Asyl vor allem durch das Recht der EU, die Europäische Menschenrechtskonvention und die Genfer Flüchtlingskonvention geprägt werden. Wer an den rechtlichen Rahmenbedingungen etwas Grundlegendes ändern will, der muß also sehr dicke Bretter bohren und auch zu disruptiven Maßnahmen bereit sein. Hier bin ich leider nicht sehr optimistisch – aber natürlich kann ich nicht in die Zukunft schauen.

Die Reaktionen auf die – eigentlich ja konstruktive – Einwanderungskritik in Ihren Büchern waren bereits damals äußerst heftig und haben zu Ihrem SPD-Parteiausschluß geführt. Seitdem ist die Stimmung allerdings noch schärfer geworden, Stichwort: woke Ideologie. Wie bewerten Sie also die Chancen, daß die Debatte doch noch eine konstruktive Wendung nimmt beziehungsweise den Spielraum einer mutmaßlich künftigen CDU-Bundesregierung? 

Sarrazin: Wie ich schon sagte, wird auch eine von der CDU/CSU geführte Regierungskoalition mit den Grünen oder den Sozialdemokraten zusammen regieren müssen. Vielleicht aber schaffen die Europawahlen am 9. Juni ein Klima, das für Veränderungen auf europäischer Ebene günstiger ist. Auch der schiere Druck der Umstände könnte überraschende Veränderungsbereitschaft wachsen lassen. Aber insgesamt gilt leider: Optimistisch bin ich nicht.

Viel diskutiert wird über die Frage, Migration zu begrenzen. Die AfD aber fordert, auch über Rückführung zu sprechen. Hat sie damit nicht recht? 

Sarrazin: Auch Bundeskanzler Olaf Scholz spricht doch über Rückführung, wenn er fordert, die Zahl der Abschiebungen deutlich zu erhöhen. Mit seiner gesamten Bundesregierung weiß er nur nicht, wie er das anstellen soll. „Remigration“ ist dabei ein Reizwort, das in der Sache nicht weiterhilft. Wir müssen den Integrationsdruck auf jene erhöhen, die bereits bei uns sind, und das Einwanderungs- und Asylrecht so ändern, daß wir künftige Einwanderung nach den deutschen Interessen wirksam steuern können – darauf sollten wir uns konzentrieren!

Die Ampel hält der AfD entgegen, daß nur knapp 500.000 Einwanderer ausreisepflichtig sind. Eine sogenannte Remigration also nichts bringt, da die Zahl möglicher Remigranten zu klein sei. Hat sie da recht? 

Sarrazin: Na ja, wenn 500.000 grundsätzlich ausreisepflichtige Asylbewerber auch tatsächlich ausreisen würden, dann wäre für die Wohnungsversorgung, die Staatsfinanzen und die Absenkung der Ausländerkriminalität bereits viel gewonnen.

Obwohl Sie sich beim Thema Migration tief eingearbeitet haben, werden Sie bis heute als Experte beziehungsweise Gesprächspartner von den etablierten Medien gemieden. Rechnen Sie damit, daß das so bleibt oder sich unter dem Druck der Realität ändern wird? 

Sarrazin: Mit meinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ hatte ich 2010 einige unwillkommene Botschaften überbracht. Das gefiel weder der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel noch meiner damaligen Partei, der SPD, und auch für viele Medien wurde ich zu einer Reizfigur. Doch leider ist alles sogar noch viel schlimmer gekommen, als ich es damals, vor anderthalb Jahrzehnten prognostiziert habe. Das aber können mir viele Medien nicht verzeihen, und das wollen sie auch nicht von mir hören. Über die Zukunft will ich in dem Zusammenhang nicht spekulieren.

Im Herbst sorgte ein Kommentar in den ARD-„Tagesthemen“ für Aufregung und Schlagzeilen in einigen Medien, denn die Nachwuchsredakteurin Julia Ruhs vom Bayerischen Rundfunk lobte darin: „Die Ampelregierung ringt sich durch zu mehr Vernunft: Sie will abgelehnte Asylbewerber jetzt konsequenter abschieben. Respekt!“ Anzeichen für einen möglichen Wandel selbst bei den Öffentlich-Rechtlichen?

Sarrazin: Auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wachsen bei einigen Verantwortlichen gegenwärtig sicherlich die Zweifel an der sehr einseitigen Positionierung bei den Themen Migration und Asyl. Ob dies eine einzelne Schwalbe ist, die noch keinen Sommer macht, oder hieraus ein neuer Trend erwächst, kann ich gegenwärtig nicht einschätzen.

Wenn man Sie doch wieder in die großen Talkshows einladen würde, was würden Sie heute zum Thema Einwanderung dort vor allem anmahnen? 

Sarrazin: Das nationale und das internationale Recht muß so geändert werden, daß ein Antrag auf Asyl nur von außerhalb der EU beziehungsweise Deutschlands möglich ist. Und illegal Eingereiste müßten unverzüglich in ihr Herkunftsland verbracht werden. Der Schutz der Person muß vom Aufenthaltsrecht abgekoppelt werden. Und die internationale Staatengemeinschaft dafür Sorge tragen, daß für politische und andere Flüchtlinge geschützte Aufenthaltsmöglichkeiten in der Nähe ihrer Heimatländer geschaffen werden. 


Dr. Thilo Sarrazin: Der 1945 in Gera geborene, in Recklinghausen aufgewachsene Volkswirt war 1973 bis 2020 SPD-Mitglied, 2002 bis 2009 Berliner Finanzsenator, danach bis 2010 Bundesbankvorstand. 2020 veröffentlichte der mehrfache Bestsellerautor „Der Staat an seinen Grenzen. Wirkung von Einwanderung in Geschichte und Gegenwart“. Im August erscheint sein neues Buch „Deutschland auf der schiefen Bahn. Wohin steuert unser Land?“

 www.thilo-sarrazin.de