© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/24 / 26. April 2024

Angebräunt im Abklingbecken
Politische Sprachpolizei: Der Höcke-Prozeß treibt den Streit um die Grenzen des Sagbaren auf die Spitze
Thorsten Hinz

Der Prozeß gegen Björn Höcke wegen des Ausrufs „Alles für Deutschland“ hat eine klare politische Intention. Er soll den Spitzenkandidaten der thüringischen AfD zerstören, die Partei als camouflierte Nachfolgeorganisation der NSDAP stigmatisieren, ihre prognostizierten Wahlerfolge sabotieren und ein Verbot vorbereiten. Weil ein bescheidenes Amtsgericht dafür als Bühne nicht genügt, findet das Verfahren am Landgericht in Halle an der Saale statt. Ein Hochsicherheitssaal mit Fenstern aus Panzerglas und ein angeschlossener Mediensaal verleihen der Szenerie eine zusätzliche Dramatik. Die journalistischen Berichterstatter wissen, was von ihnen erwartet wird, und sie liefern eifrig das Gewünschte.

Die Losung, die auf einer Wahlveranstaltung in Merseburg fiel und nun zur Anklage nach Paragraph 86 Strafgesetzbuch (Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger und terroristischer Organisationen) führt, ist in der Sache – wie Höcke richtig sagte – ein „Allerweltsspruch“, ähnlich wie „America first“, „Forza Italia“ oder „La République En Marche!“. Ob solche Sprüche für sinnvoll oder für strunzdumm zu halten sind, liegt im individuellen Ermessen der Adressaten. Nun ist es eine historische Tatsache, daß die nationalsozialistische SA sich die Wendung als Parole einverleibt hatte. Tatsache ist aber auch, daß diese Notzucht der Sprache längst aus dem kollektiven Wissensfundus entschwunden war. 95 Prozent der Politiker und Journalisten, die sich jetzt über die „Nazi-Losung“ erregen, dürfte sie so unbekannt gewesen sein wie das Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 1. Februar 2006, das die Nutzung des Spruches unter Strafe stellte.

Ob Höcke um die Herkunft wußte oder nicht, ist im konkreten Fall ohnehin unerheblich, denn er gebrauchte sie nicht isoliert, sondern in einem grammatischen Zusammenhang: „Alles für unsere Heimat, alles für Sachsen-Anhalt, alles für Deutschland.“ Der Satz enthält zwei rhetorische Stilmittel: Erstens das Trikolon, ein dreiteiliges Satzgefüge beziehungsweise eine Dreierfigur aus gleichartigen syntaktischen Einheiten, die durch kurze Sprechpausen voneinander getrennt sind. Zweitens eine Klimax, konkret die stufenweise Steigerung von der Region zum Bundesland zum Vaterland, von der Heimatliebe im engeren Sinne zum Patriotismus. Die Rhythmisierung und Spannungssteigerung verstärken den Effekt der Aussage. Man sieht förmlich das Publikum sich danach spontan von den Plätzen erheben und „Einigkeit und Recht und Freiheit“ anstimmen. Es braucht viel böswilligen Vorsatz, um in der Äußerung NS-Propaganda zu entdecken.

Angesichts des Verfolgungsdrucks, dem die Partei ausgesetzt ist, müssen ihre Spitzenpolitiker sich akkurat rückversichern, ob ihre rhetorischen Mittel den Behörden einen Vorwand bieten könnten, die Repressionsschraube weiterzudrehen. Doch stellt sich die Gegenfrage, ob man permanent eine Halten-zu-Gnaden-Position einnehmen und präventiv einer Sprachpolizei nachgeben soll, die darauf aus ist, das Sagbare und damit das Denkbare immer weiter einzuschränken. Im Fall von „Alles für Deutschland“ hatten die Jahrzehnte, die seit Kriegsende vergangen sind, sich als Abklingbecken erwiesen, das den Spruch erfolgreich entgiftet hatte. Aus durchsichtigen Gründen wurde er künstlich wieder angebräunt.

Natürlich gibt es Formulierungen aus der NS-Zeit, die sich nicht nur aus juristischen, sondern auch aus Gründen des Anstands verbieten. Man denke an „Sieg Heil“, „Heil Hitler“ oder „Arbeit macht frei“. In diese Reihe gehört weiterhin die Losung „Deutschland erwache“, die eng mit dem Aufstieg der NS-Bewegung verbunden ist und zudem einen weiteren, nicht zitierfähigen judenfeindlichen Imperativ assoziiert. Unmöglich ist auch das Hitlerjugend-Motto „Blut und Ehre“. Es gab nun mal zuviel Blut und zuviel Unehre. Ironie der Geschichte: Unter dem Titel „Ehrenmord“ hat die Verbindung aus Körpersaft und Wertgefühl sich klammheimlich reetabliert. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen, bliebe aber überschaubar und leicht beherrschbar.

Angespornt von der regierungsamtlichen Demokratieförderung sind Aktivisten pausenlos damit beschäftigt, die Verbotszone auszuweiten. Im September 2023 veröffentlichte Zeit online ein ganzes Dossier mit vermeintlichen NS-affinen Sprachverbrechen Höckes. 2018 hatte er am Kyffhäuser aus einer Rede des Reichskanzlers Bernhard von Bülow aus dem Jahr 1899 zitiert: „Die Deutschen müssen sich fragen und entscheiden: Wollen sie Hammer oder Amboß sein?“ Das unverfängliche Zitat bringt eine existentielle Frage auf den Punkt: Will Deutschland sich als Objekt der Fremdbestimmung, als duldendes Beuteland verstehen oder als Subjekt, das seine Geschicke in die eigenen Hände nimmt? Die Zeit meinte es besser zu wissen, denn sie hatte herausgefunden, daß die Metapher 1919 von Hitler verwendet worden war: „Wer nicht Hammer sein will, der muß Amboß sein. Wir sind jetzt in Deutschland Amboß.“

Das ist Wahnsinn mit Methode. Die Alternative „Amboß oder Hammer sein“ ist seit dem „Kophtischen Lied“ von Goethe sprichwörtlich. Der Kommunist Georgi Dimitroff zitierte das Gedicht 1933 in seiner Schlußrede im Reichstagsbrand-Prozeß. Bischof Clemens Graf von Galen, der „Löwe von Münster“, benutzte die Metapher, als er im Sommer 1941 den Terror der Geheimen Staatspolizei öffentlich geißelte und hinzufügte: „Wir sind Amboß und nicht Hammer. Wenn er hinreichend zäh, fest, hart ist, dann hält meistens der Amboß länger als der Hammer.“ 

Mit ein wenig Hitler-Klitterei kann man die ganze deutsche Kultur und Geschichte im schwarzbraunen Loch zum Verschwinden bringen. Um der Absurdität die Krone aufzusetzen, prangt auf der Fassade des Hallenser Landgerichts der Spruch „Jedem das Seine“, die Übersetzung des antiken „Suum cuique“. Die gleichen Worte standen auf dem Tor zum KZ Buchenwald. Was nun, Hohes Gericht?

In Thomas Manns „Zauberberg“ wird ein einziger Satz im Sperrdruck hervorgehoben: „Der Mensch soll um der Güte und der Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“ Die Bundesrepublik scheint zum Gegenteil entschlossen. Je länger der Nationalsozialismus zurückliegt, desto wirkungsmächtiger wird er als negativer Sinnstifter. Wer aus dem zur Anklage stehenden Satzgefüge eine Straftat herausliest, kriminalisiert in der Konsequenz das Bekenntnis zu Land, Heimat, Volk. Der Meta-Sinn des Prozesses bestünde dann darin, ein Sprach- und Gedankenregime durchzusetzen, in dem die Deutschen sich nur noch als ortlose Nomaden wiederfinden.