© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/24 / 19. April 2024

Gewisse Grenzen verletzt
Vor fünfzig Jahren wurde der DDR-Spion Günter Guillaume im Umfeld von Bundeskanzler Willy Brandt enttarnt / Sein folgender Rücktritt wurde in Ost-Berlin nicht als Erfolg verbucht
Thomas Schäfer

Ende 1956 startete das Ministerium für Staatssicherheit der DDR eine Aktion, welche siebzehneinhalb Jahre später zum Rücktritt des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Willy Brandt führen sollte: Im Auftrag der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), also des vom Stasi-General Markus Wolf geführten Auslandsnachrichtendienstes des SED-Regimes in Ost-Berlin, „flohen“ die Eheleute Günter und Christel Guillaume in die Bundesrepublik und eröffneten bald darauf in Frankfurt am Main den Kaffee- und Tabakladen „Boom am Dom“. Der Auftrag der beiden Offiziere im besonderen Einsatz mit den Decknamen „Hansen“ und „Heinze“ lautete: „Aufklärung der SPD“. Zu diesem Zweck hatte die Stasi den Redakteur im Verlag Volk und Wissen und die Sekretärin im Komitee der Kämpfer für den Frieden längere Zeit intensiv geschult und mit 10.000 D-Mark Startkapital versehen.

Hinweise auf den „Kundschafter“ Guillaume wurden mißachtet

Nach dem Eintritt der beiden Spione in die SPD machte zunächst Christel Guillaume Karriere. Sie wurde alsbald Mitarbeiterin des prominenten SPD-Europapolitikers Willi Birkelbach. Weil dieser als Bundestags- und EU-Abgeordneter, Staatssekretär, Mitglied des SPD-Parteivorstands und Leiter einer Kommission des EU-Parlaments fungierte, gingen zahlreiche wichtige Dokumente über den Schreibtisch von „Heinze“ – und Fotos der Papiere kurz danach zur HVA nach Ost-Berlin. „Hansen“ stieg indes nur langsam auf und wurde erst 1964 hauptamtlicher SPD-Funktionär. Aber auch dann brachte er es lediglich zum Geschäftsführer des SPD-Unterbezirks in Frankfurt am Main.

1969 freilich bewährte sich Guillaume als Wahlkampfleiter des SPD-Verkehrsministers Georg Leber, dessen Wahlkreis in Frankfurt lag. Zum Dank verschaffte Leber dem DDR-Spion eine Stelle als Referent in der Abteilung Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik des Bundeskanzleramtes, welche dieser am 1. Januar 1970 antrat. Anschließend avancierte Guillaume Ende 1972 aufgrund seines Einsatzes und Organisationstalents zum Persönlichen Referenten für Parteifragen von Bundeskanzler Willy Brandt, womit er Zugang zu vertraulichen Akten sowie den Gesprächsrunden im engeren Kreise der Bundesregierung bekam und zudem auch Einblicke in das Privatleben von Brandt erhielt. Sein Wissen gab Guillaume ab dem 6. November 1970 in regelmäßigen Berichten an die Stasi weiter.

Dabei hätte er zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon längst enttarnt sein müssen, aber das Bundeskriminalamt und der Bundesnachrichtendienst waren in seinem Falle zunächst äußerst nachlässig vorgegangen. Zwar äußerten sie gewisse Bedenken gegenüber dem neuen Mann im Bundeskanzleramt, weil der BND 1954 von einem Mitarbeiter im Verlag Volk und Wissen erfahren hatte, daß die Stasi plane, den „Kundschafter“ Guillaume in den Westen zu schicken. Doch dann steckten sie zurück, weil Kanzleramtschef Horst Ehmke es für zwingend notwendig erachtete, Guillaumes Einsatz mit einem Versorgungsposten zu belohnen, zumal er auf diesem auch scheinbar nur wenig Schaden anrichten konnte und Leber bereit war, für ihn „die Hand ins Feuer“ zu legen. 

Doch schließlich zog sich die Schlinge um den Hals des MfS-Agenten dann doch zusammen. Im Februar 1973 stieß der Oberamtsrat Heinrich Schoregge vom Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz bei der Untersuchung von drei Spionageverdachtsfällen mehrfach auf Guillaumes Namen. Parallel dazu erhielt er von einem Kollegen den Hinweis auf entschlüsselte Funksprüche der HVA aus den 1950er Jahren mit Geburtstagsglückwünschen für zwei nicht namentlich genannte DDR-Spione zum 1. Februar und 6. Oktober – also genau jenen Tagen, an denen Günter und Christel Guillaume ihre Geburtstage feierten. Allerdings erfolgte daraufhin trotzdem keine Verhaftung des Ehepaares. Vielmehr informierte der Verfassungsschutzpräsident Günther Nollau am 29. Mai 1973 den damaligen Innenminister Hans-Dietrich Genscher, der wiederum Brandt in Kenntnis setzte. Anschließend wurde vereinbart, den Bundeskanzler als Lockvogel zu nutzen, damit der bundesdeutsche Inlandsgeheimdienst belastbare Beweise gegen Guillaume sammeln konnte.

Risiko der Verbreitung pikanter Details aus Brandts Privatleben

Deshalb erhielt der HVA-Mann weiterhin Einblicke in Interna der Bundesregierung. Selbst als der Verfassungsschutz am 1. März 1974 seinen Abschlußbericht über die Ermittlungen gegen Guillaume vorlegte, waren Brandt und dessen engste Berater immer noch nicht vollständig von dessen Schuld überzeugt. Am Ende erließ der unmittelbar vor der Pensionierung stehende Generalbundesanwalt Ludwig Martin aber doch einen Haftbefehl gegen die beiden Guillaumes, weil offensichtlich Fluchtgefahr bestand. Und die Festnahme am frühen Morgen des 24. April 1974 brachte dann auch sofort Gewißheit. Als die BKA-Beamten das Haus der Eheleute in Bad Godesberg mit vorgehaltener Maschinenpistole stürmten, erklärte Guillaume in pathetischem Tone: „Ich bin Offizier der Nationalen Volksarmee der DDR und Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Ich bitte, meine Offiziersehre zu respektieren.“

Wegen seines Landesverrates wurde Günter Guillaume am 15. Dezember 1975 vom 4. Strafsenat des Oberlandesgerichtes Düsseldorf zu 13 Jahren Haft verurteilt, während Christel Guillaume für acht Jahre ins Gefängnis sollte. Allerdings kamen die beiden schon 1981 bei einem Agentenaustausch frei, wonach sie in die DDR zurückkehrten.

Die Guillaume-Affäre führte am 7. Mai 1974 zum Rücktritt von Bundeskanzler Willy Brandt. Neun Tage später wählte der Bundestag seinen Parteigenossen Helmut Schmidt zum neuen Regierungschef. Warum Brandt das Handtuch warf, obwohl der Stasi-Agent Guillaume an keine nennenswerten Staatsgeheimnisse gelangt war, ist bis heute umstritten. Jahre später sagte der Ex-Kanzler hierzu: „In Wahrheit war ich kaputt, aus Gründen, die gar nichts mit dem Vorgang zu tun hatten.“ In Frage kommen hier unter anderem Brandts Depressionen, Alkoholprobleme und Affären. Gleichzeitig bestand aber auch das Risiko einer Erpressung der Bundesregierung durch die DDR vermittels der Drohung, pikante Details aus Brandts Privatleben, von denen Guillaume wußte, öffentlich zu machen.

Auf jeden Fall zeitigte das Ganze gravierende politische Folgen: Schmidt trieb die europäische Einigung und die Anlehnung an die Nato voran und drängte später im Zuge der Nachrüstung auf den Nato-Doppelbeschluß, der die Aufstellung von Mittelstreckenraketen in Westeuropa vorsah. Andererseits kam es aber zu keiner Verschlechterung des Verhältnisses zur DDR. Bonn ließ Ost-Berlin wissen, daß die Fortsetzung der von Brandt eingeleiteten Normalisierungspolitik möglich sei, wenn die Stasi künftig „gewisse Grenzen“ respektiere. Und das war durchaus auch im Sinne der DDR-Führung, welche den Rücktritt von Brandt als Panne betrachtete und die HVA heftig kritisierte. Laut dem letzten Auslandsspionage-Chef der DDR, Werner Großmann, entwickelte der Staats- und Parteichef Erich Honecker sogar ein regelrechtes „Guillaume-Syndrom“: Aus Angst vor einem zweiten solchen Spionagefall befahl er dem Stasi-Chef Erich Mielke, eventuelle weitere „Kundschafter“ im Kanzleramt unverzüglich abzuschalten, um die faktische Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik nicht zu gefährden. 

Foto: Bundeskanzler Willy Brandt mit Ehefrau Rut und dem persönlichen Referenten Günter Guillaume 1973: SPD-Wahlkämpfer mit Versorgungsposten belohnt