Den „globalen Theoriehelden aller Liberalen“ (Friedrich W. Graf) Immanuel Kant in die europäische Geistes- und politische Theoriegeschichte einzuordnen, erscheint auf den ersten Blick nicht schwer. Belege dafür liegen viele vor. Berühmt sind seine Freudentränen über die Französische Revolution. Über die Erstürmung der Bastille war er nach Berichten so erfreut, daß er die Bibel zitierte: „Nun läßt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast.“ Dabei handelte es sich keineswegs um den plötzlichen Gefühlsausbruch eines notorisch disziplinierten Charakters. Einige Jahre später spricht er in seiner Schrift „Der Streit der Fakultäten“ von diesem weltgeschichtlichen Ereignis als „Zeichen“ dafür, daß das Menschengeschlecht sehr wohl voranschreite.
Die Differenz zum typischen Konservativen ist auffällig. Dieser sei nach dem britischen Philosophen und Schriftsteller Roger Scruton (1944–2020) nicht daran interessiert, die menschliche Natur zu verbessern oder grundsätzlich für verbesserungsfähig zu halten. Aus dieser Perspektive kann man den Menschen nicht als ideales, rational entscheidendes Wesen betrachten. Kant hingegen ist so fortschrittsorientiert, daß er sogar in der Natur ein teleologisches Moment inhärent sieht, das Menschen in Richtung einer besseren Zukunft treibt. Der aufgeklärte Optimismus geht so weit, Kriege als generell überwindbar zu prognostizieren. Sie würden zukünftig – angesichts eines wachsenden Handels und eines steigenden Wohlstandes – als kontraproduktiv eingestuft werden, so die Hoffnung. Nicht zuletzt der kategorische Imperativ verpflichtet, an der Verbesserung der humanen Daseinsverfassung mitzuwirken.
Erst recht zeugt die äußerst umfangreiche Rezeption Kants im Verlauf der jüngsten über 200 Jahre von seinen Einflüssen auf universalistisch-(links-)liberale Theoretiker. Um nur wenige Beispiele anzuführen: Der Völkerbund wurde von Gelehrten wie dem Staatsrechtler und neukantianisch orientierten Rechtsphilosophen Hans Kelsen auf der Basis vor allem von Kants Schrift über den ewigen Frieden konzipiert. Vertreter des katholischen Modernismus und Liberalismus, von Félicité de Lamennais über Hermann Schell bis zu Vordenkern des Zweiten Vatikanischen Konzils wie Karl Rahner und Joseph Maréchal, verarbeiteten die Lehren des Königsberger Meisters. Führende Repräsentanten westlich-liberaler Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und im frühen 21. Jahrhundert wie Hannah Arendt, John Rawls, Jürgen Habermas und Otfried Höffe haben keinen Zweifel über die wesentliche Grundierung ihres Ansatzes gelassen.
Die geistigen Frontlinien sind also eindeutig: Ein traditionell orientierter Konservativer, der an alteuropäisch-metaphysischen wie ontologischen Überlieferungen festhält, wird den preußischen „Alleszermalmer“ als Hauptgegner über die Jahrhunderte hinweg betrachten.
Im Detail zeigen sich jedoch Nuancen. Kant destruierte zwar die alte Metaphysik, schuf aber gleichzeitig Fundamente für eine neue. Er wußte um die zentrale Bedeutung des Gottesbegriffes in der Menschheitsgeschichte und um die Notwendigkeit der Kompensation, wenn dessen Stellenwert im Rahmen der „reinen Vernunft“ nicht mehr stimmig erschien. In der Tat betrachtete er es als unmöglich, daß das Erkenntnissubjekt „Gott“ wie einen üblichen Alltagsgegenstand aus den Sinnesdaten begründen könne. In diesem Fall wäre Gott ein Götze.
Kant läßt aber die Stelle des Höchsten nicht leer. Wie andere Zentralbegriffe der Metaphysik (Unsterblichkeit, Seele und Freiheit) ersteht Gott im Bereich der praktischen Vernunft neu. Ohne Gott gibt es demnach keine absolute Fundierung des guten Handelns. Er wird gebraucht, um die Person als unverfügbar und als „Zweck an sich selbst“ zu bekräftigen. In der Ethik gewinnt der Allmächtige eine größere Bedeutung für den menschlichen Alltag als in separierten Stuben, in denen weltfremder kultischer „Afterdienst“ betrieben werde.
Kants Ansatz erfüllt wie kaum ein Alternativkonzept eine essentielle Forderung Scrutons: nämlich die Schaffung von Mechanismen, die den Raum für funktionierende Gesellschaften hervorbringen. Dazu zählt in eminenter Weise die Entkoppelung von Recht und Moral. Um eines friedlichen Zusammenlebens willen bedarf es rechtlicher Regeln, die ein freiheitliches Miteinander ermöglichen.
Diese Differenzierung steht den inflationären Wertediskussionen, die westliche Gesellschaften schon seit Jahrzehnten führen, fern. Derartige Auseinandersetzungen arten nicht selten in eine unverbindliche „Tyrannei“ aus. Carl Schmitts hartes Urteil über solche Kontroversen trifft aber eben Kant nicht, der mit „Würde“ ein weiteres absolutes Daseinsfundament begründet, das allen Abwägungen und Relativierungen widerstrebt. Man spricht in diesem Kontext von einer deontologischen Pflichtenethik. Sie verbietet bestimmte Handlungen, beispielsweise Mord oder Folter, absolut. Die Kommentierungen des ersten Grundgesetz-Artikels kommen zumindest bis in die frühen 2000er Jahre nicht ohne Rekurs auf den wirkmächtigsten deutschen Aufklärer aus.
Das Kantsche Denken in Kategorien des Ausgleichs ist bei Liberalkonservativen in den letzten Jahrzehnten zu neuer Beliebtheit gelangt. Zwei prominente Mitglieder der Schule des legendären Philosophen Joachim Ritter, Hermann Lübbe und Odo Marquard, sind in Kompensationsreflexionen geübt. Die modernen Aufdringlichkeiten wie beispielsweise die Unabwendbarkeit des Fortschritts fordern (Lübbe zufolge) Gegengewichte. Die Aufwertung denkmalpflegerischer Aktivitäten und die neue Attraktivität der Vergegenwärtigung der Geschichte sind exemplarisch als Gegengifte zu nennen. Die Evolutionsdynamik moderner Gesellschaften steigert Bemühungen in „vergangenheitsbewahrender Absicht“ (Hermann Lübbe). Zentripetale Kräfte der Europäischen Union, gestärkt vor allem durch die Macht der Kommission und des Europäischen Gerichtshofes, bringen zentrifugale Dynamik in Form widerspenstiger Nationalstaaten und Regionen hervor.
Der „konservative“ Kant ist nicht zuletzt Ergebnis seiner Wirkungsgeschichte. Der aufgeklärte Weise fungiert als Bindeglied zwischen der großen metaphysischen Überlieferung des Abendlandes und dem „revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts“ (Karl Löwith), der von Hegel zu Nietzsche führt. Neukantianer wie Paul Natorp und Hermann Cohen wollten im späten 19. Jahrhundert Kants Lehren von mittlerweile unzeitgemäß gewordenen Bestandteilen reinigen. Das „Ding an sich“ als Zugang zur transsubjektiven Wirklichkeit erschien jetzt als unfundiert. Da jeder die Sinnesdaten nur nach Maßgabe angeborener Erkenntniskategorien filtern könne, sei Kant in diesem Punkt inkonsequent, so die geistigen Testamentsvollstrecker. Erst recht war ihnen der Zusammenhang von Religion und Ethik suspekt. Die Moral sei grundsätzlich religions- und metaphysikfrei, ebenso die Grundlagen des Staates.
Mit wachsender Gegenwartsnähe konstatieren Kant-Exegeten eine zunehmende Kluft zum sich wandelnden Zeitgeist. Basale Stichworte des Gegenwartsdiskurses lauten Nihilismus, Postmoderne und Gender-Mainstreaming, mithin also Relativismus und Beliebigkeit. Deren kanonisierte Väter heißen Michel Foucault und Jacques Derrida.
Die von Kritikern gern als rigoristisch abqualifizierte Pflichtenethik Kants ist diesen Strömungen diametral entgegengesetzt. Wenn der mit einer Arbeit über Lebenswelt promovierte Philosoph und Publizist Alexander Ulfig „Humanismus gegen postmodernen Anti-Humanismus“ positioniert, dann hat er vor allem Kant im Blick. Dessen beinahe fundamentalistisch erscheinende Theoreme muten im Kontext solcher Dispute wie anachronistische Grundfesten in einer haltlos-skeptischen Welt an. Kant gehe (Ulfig zufolge) von „letzten, nicht-hintergehbaren Prinzipien und Postulaten“ aus und schaffe es, die Besonderheit des Menschen durch die Zuschreibung von Würde, Autonomie und Freiheit herauszustellen. Dabei handelt es sich auch aus gegenwärtiger Sicht um zentrale humanistisch-aufklärerische Inhalte, die lohnen, weitergegeben zu werden – nicht zuletzt wegen ihrer universalistischen Stoßrichtung.
Diese Ausrichtung ist angesichts der aktuellen Grabenkämpfe relevant. „Zynische Theorien“, die „Race“, „Gender“ und Identität über alles stellen, sind schon seit einiger Zeit bekannt dafür, gerade in ihren aktivistischen Umsetzungen wie „Cancel Culture“ und „Social Justice“, die Gesellschaft umzukrempeln. Im Rahmen dieses Dekonstruktionsprojektes werden primär die „alten Religionen“ (Helen Pluckrose/James Lindsay) aufs Korn genommen. Ihre Deutungssysteme gaben über Jahrhunderte Menschen Orientierung. Gemeint sind konventionelle Glaubensrichtungen wie das Christentum, aber auch säkulare Richtungen wie der Marxismus, kohäsiv-moderne Systeme wie die Wissenschaft, ebenso tendenziell universalistische Strömungen wie Liberalismus und der Fortschrittsgedanke. Vor dem Hintergrund dieser Frontstellung erstaunt es nicht, wenn universalistisch ausgerichtete (Liberal-)Konservative wie der Althistoriker Egon Flaig und die Ethnologin Susanne Schröter einerseits und eher linksliberale Publizisten wie Pluckrose und Lindsay andererseits grundsätzlich an einem Strang ziehen.
Wenn Kant, der einst der Französischen Revolution nach 1794, als sich viele Intellektuelle von ihr abgewendet hatten, die Treue hielt, in wohlbestimmter Hinsicht heute als Konservativer einzustufen ist, so gefällt dies nicht jedem. Man möchte den Schutzbefohlenen vor falschen Freunden retten. So argumentieren die Autoren Omri Boehm und Daniel Kehlmann in ihrem viel beachteten Kant-Gespräch von 2024 („Der bestirnte Himmel über mir“), der „angeblich konservative Kant“ sei fehlinterpretiert. Zu den theoretischen Aufgaben des Konservativen gehört, Maßstäbe an den historischen Wandel anzulegen. Ein solcher Referenzwert verändert sich im Kontinuum der Geschichte laufend. Er dient dazu, festzulegen, was an der Überlieferung gut und bewahrenswert ist; denn zu keiner Zeit sind Konservative dafür eingetreten, die Tradition in toto zu verabsolutieren. Es kommt also auch in diesem Zusammenhang darauf an, zu differenzieren. Diese Kunst gilt es auch im Hinblick auf den Großdenker der Aufklärung anzuwenden.
Prof. Dr. Felix Dirsch, Jahrgang 1967, lehrt Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Politische Theorie in Armenien. Er schrieb zuletzt das Buch „Logiken des Wandels“ (Verlagshaus Schlosser).
Bild: Kant und seine Tischgenossen, kolorierter Holzstich nach einem Gemälde von Emil Doerstling, 1900: Kant, der einsame Denker? Mitnichten, seine Wandlungsfähigkeit überrascht noch heute. Er hatte stets berühmte Gäste, die ihm die Welt in seine Stube trugen