Der Versuch, die Werke des Schriftstellers Vladimir Nabokov bis in den tiefsten Grund zu entschlüsseln, ist ein schwieriges, nicht zwingend von Erfolg gekröntes Vorhaben. Wer aber an ungelösten Rätseln und Perspektivwechseln Vergnügen hat, dürfte in Nabokov einen Meister gefunden haben. Mehrfache Lektüre führt in der Regel hier nicht zur Verminderung der Deutungsmöglichkeiten, im Gegenteil.
Die Spuren der Verunsicherung legt Nabokov dabei zuweilen sehr direkt. In dem Roman „Das wahre Leben des Sebastian Knight“ macht es sich der Ich-Erzähler, der lediglich als V. benannt wird, zur Aufgabe, die Biographie seines verstorbenen Halbbruders, eines Schriftstellers, zu rekonstruieren. V. mahnt sich selbst: „Sei nicht zu sicher, daß du die Vergangenheit aus dem Mund der Gegenwart erfährst. Hüte dich auch vor dem ehrlichsten Vermittler. Vergiß nicht, daß alles, was man dir sagt, eigentlich dreifach zusammengesetzt ist: Es ist geformt vom Erzähler, umgeformt vom Zuhörer und vor beiden durch den Toten in der Geschichte verborgen.“
Die Fragmente, die über das „wahre Leben“ zusammengetragen werden, sind dann auch kaum als geschlossene Darstellung zu bezeichnen, und der entsprechend eingestimmte Leser muß am Ende von V. erfahren: „Sebastians Maske haftet an meinem Gesicht, die Ähnlichkeit läßt sich nicht herunterwaschen. Ich bin Sebastian, oder Sebastian ist ich, oder vielleicht sind wir beide jemand, den keiner von uns kennt.“ Hier ergibt sich, retrospektiv, eine Vielzahl von Lesarten, etwa die Varianten, daß es Sebastian ist, der selbst seine Geschichte erzählt und V. nur fiktional war oder umgekehrt, daß V. seinen Halbbruder erfunden hat.
Nabokovs Familie emigrierte im Zuge der Oktoberrevolution
Den „unzuverlässigen Erzähler“, der dem Leser Kraft abnötigt, ihm andererseits aber reichlich reizvolle intellektuelle Herausforderungen bietet, hat Nabokov immer wieder aufgeboten, nicht nur in „Sebastian Knight“. Einen Wendepunkt im Schaffen des Autors markiert das 1938 niedergeschriebene und 1941 veröffentlichte Buch in anderer Hinsicht. Es handelt sich um seinen ersten in englischer Sprache verfaßten Roman.
Nabokov wurde am 22. April 1899 beziehungsweise nach dem zu dieser Zeit in Rußland noch gültigen julianischen Kalender am 10. April in Sankt Petersburg geboren. Die gut situierte Familie gab sich anglophil, was sich auch auf die entsprechende Schulung der Kinder erstreckte. Nabokovs Großvater wirkte als Justizminister im Dienst des Zaren. Sein Vater, dem aufgrund liberaler Bestrebungen das Adelsprädikat „Kammerherr“ aberkannt worden war, diente nach der Februarrevolution 1917 in der Provisorischen Regierung als Staatssekretär. Im Zuge der Machtübernahme der Bolschewiki verließ die Familie Rußland. Nabokov studierte Literatur in Cambridge und lebte dann in Berlin, wo er seinen Lebensunterhalt mit Sprach-, aber auch Tennis- und Boxunterricht bestritt. Seit 1925 war er mit Véra Slonim verheiratet, die ihn intensiv bei seiner literarischen Tätigkeit unterstützte. Als einziges Kind ging aus der Verbindung der Sohn Dmitri hervor.
Mit „Maschenka“ erschien 1926 Nabokovs erster Roman, sieben weitere in russischer Sprache sollten folgen. Geschätzt wurde er als guter Stilist. Nachdem er 1937 nach Frankreich gegangen war, erfolgte 1940 die Übersiedlung in die USA. Nabokov wirkte als Lepidopterologe – in der Schmetterlingskunde hatte er sich, neben der Schriftstellerei, ebenfalls einen Namen gemacht – und unterrichtete Literatur, zuletzt bis 1959 als Professor an der Cornell University. Der erstmals 1955 in Paris publizierte und drei Jahre später auch in New York veröffentlichte Roman „Lolita“ über die pädophilen Begehrlichkeiten der Figur Humbert Humbert, die in eine Beziehung mit einer Zwölfjährigen münden, hatte nicht nur beträchtliches Skandalpotential, sondern sorgte auch für den literarischen Durchbruch Nabokovs. Seine früheren Werke fanden nun wesentlich größere Beachtung. Finanziell sorgenfrei kehrte er nach Europa zurück und lebte ab 1961 in einer Suite des Palace Hotels im schweizerischen Montreux.
Mit seinem Tod am 2. Juli 1977 hätte er wohl das als erfüllt angesehen, was er in seinen Memoiren „Erinnerung sprich“ schon über sein „Schicksal“ gemutmaßt hatte, die „Aufteilung“ seines Lebens in Abschnitte von jeweils 20 Jahren: Zunächst das Leben in Rußland, dann Westeuropa, vor allem Berlin und später Frankreich, anschließend die USA und schließlich wieder Europa, die Schweiz. Die ersten Ortswechsel waren wenig freiwillig, der letzte war durch die neuen materiellen Möglichkeiten bedingt. Für Nabokov war das seiner Meinung nach Vorbestimmte auch in seinem Werk wesentliches Thema, immer wieder kämpfen seine Figuren mit dem „Schicksal“ oder werden von ihm als „Werkzeug“ genutzt. Zu Nabokovs russischen Romanen gesellten sich neun englischsprachige. Er verfaßte eine Vielzahl von Erzählungen, Übersetzungen und weitere Arbeiten, zwei Romane blieben unvollendet.
Autobiographisches, Erinnerungen an die russische Heimat und die Jugend, das Exil und das Emigrantendasein, Einsamkeit und gefühlte Isolation dienten ihm oft als Ansatzpunkte. Was sein Werk ausmacht, sind indes das Spiel mit der Illusion, das Spiegeln, versteckte und immer wiederkehrende Motive, groteske Komik, Protagonisten, die entweder als Genies oder als Wahnsinnige auftreten, die Irreführung des Lesers und mehrschichtige Ironie, die als sicher erkannt Geglaubtes wieder zum Einsturz bringt. Ein romantischer Dichter war Nabokov insofern, als er der Kraft des Bewußtseins maßgebliche Bedeutung zuschrieb. Das Leben betrachtete er als Abfolge von „außerordentlichen Visionen“ zwischen „zwei Ewigkeiten des Dunkels“. An Sozialdramen war er ebensowenig interessiert wie an moralischen Werturteilen, um so mehr an Deformation oder ungewöhnlicher Steigerung der menschlichen Wahrnehmung. Luzide Beschreibungen waren seine Sache, am Ästhetischen hatte er erkennbar Vergnügen.
Seinen Lebensabend verbrachte er in einem Hotel am Genfer See
Zur Vermittlung all dessen hat Nabokov eine Welt geschaffen, die von einer Vielzahl skurriler Erscheinungen geprägt ist. Neben den Figuren aus „Lolita“ sind da etwa der dilettantische Mörder in „Verzweiflung“, der an die Perfektion seines Planes glaubt und sich von der für jedermann sichtbaren Realität abgekoppelt hat, ähnlich wie der schließlich auch physisch blinde Liebhaber in „Gelächter im Dunkel“. In „Lushins Verteidigung“ ist ein begabter Schachspieler – Schach und Schachkompositionen waren eine Leidenschaft Nabokovs – am Ende nicht mehr in der Lage, über den 64-Felder-Horizont hinauszusehen. „Das Bastardzeichen“ karikiert den Kommunismus, hier herrscht eine Ideologie, nach der die ungleiche Verteilung „menschlicher Bewußtheit auf die Weltbevölkerung“ als „Wurzel aller Übel“ angesehen wird. Mit einem eigensinnigen und gebeutelten, aber alles andere als typisch zerstreuten Professor hat Nabokov in „Pnin“ seinen sympathischsten Helden geschaffen. Außergewöhnlich gestaltet ist der Roman „Fahles Feuer“, formell handelt es sich um die Edition eines langen Gedichts mit Einleitung und umfangreichem Kommentar.
Nabokov versteckte gern, aber nicht immer. Und so war nicht nur die Verfaßtheit von Sebastian Knight gemeint, wenn es hieß, „was ihn aufregte, war nicht das Dritt- oder n-t-klassige, es war das Zweitklassige“.
Foto: „Lolita“-Verfilmung von Stanley Kubrick (1962): In der Titelrolle ist Sue Lyon zu sehen, James Mason spielt Humbert Humbert