© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/24 / 19. April 2024

Oberst Snidel hält die Welt in Atem
Dietmar Mehrens

Diese Praline hätte die fünfjährige Anya besser nicht vernascht. In ihr befand sich nämlich ein streng geheimer Mikrofilm, und der ist nun mutmaßlich in ihrem Magen gelandet. Damit ist das kleine Mädchen zu einem der am meisten bedrohten Menschen der Welt geworden. Ein Gefühl, das ihre Adoptiveltern bereits kennen dürften. Handelt es sich bei ihrem Vater Loid Forger alias Twilight doch um einen verdeckt agierenden Superagenten des fiktiven Staates Westalis und bei ihrer Mutter Yor um eine Auftragskillerin. Im Rahmen der Geheimoperation Strix soll Loid eine Eliteschule infiltrieren, um an einen hochrangigen Politiker heranzukommen. Die Familie dient als Tarnung. Daß seine Frau eine hocheffiziente Attentäterin ist und er ein Geheimagent, weiß keiner vom jeweils anderen. Durchblick hat allein ihre selbstbewußte Tarntochter.

Der Schurke will das Gleichgewicht zwischen West und Ost kippen

Das kleine Mädel ist die heimliche Hauptfigur von „Spy x Family Code: White“. Eigentlich darf das Adop-tivtöchterchen der Forgers natürlich nichts wissen von der wahren Identität ihrer Eltern. Doch auch Anya hat ein gut gehütetes Geheimnis: Sie hat eine telepathische Sonderbegabung, kann also Gedanken lesen und ist somit stets über all das, was ihre Eltern ihr verheimlichen wollen, im Bilde. Als sie bei einem offiziell so deklarierten Familienausflug in das Schneeparadies Frigis ihrem Vater eine Freude machen möchte, stößt sie auf die eingangs erwähnte Praline – und das Unheil nimmt seinen Lauf.

„Spy x Family Code: White“ ist der Kinofilm zur beliebten japanischen Fernsehserie „Spy x Family“, die wiederum auf den von Tatsuya Endo gezeichneten Comicgeschichten basiert, die in Japan ein Riesenerfolg mit einer Auflage von sage und schreibe mehr als 31 Millionen Exemplaren sind. Die Verfilmung fürs Fernsehen feierte am 9. April 2022 unter dem Jubel einer weltweiten Anhängerschaft ihr Debüt. Die ersten beiden Staffeln sind beim Streamingportal Crunchyroll verfügbar.

Es hilft beim Einstieg in die etwas hastig erzählte Handlung, die Serie zu kennen. Aber der von Takashi Katagiri rasant inszenierte Zeichentrickfilm wartet mit einer neuen, eigenständigen Geschichte auf, und die ist wiederum nicht so komplex, daß man Schwierigkeiten befürchten müßte, nicht hineinzufinden. Vieles erinnert an die Superheldenparodie „Die Unglaublichen“ (2004) aus dem Hause Pixar, in der es ebenfalls um eine außergewöhnliche Familie ging, deren Angehörige mit vielfältigen Talenten gesegnet sind.

Im Mittelpunkt steht natürlich auch hier der Kampf gegen einen garstigen Oberschurken: den perfiden Oberst Snidel. Der abtrünnige Uniformierte will das fragile Gleichgewicht zwischen West und Ost kippen, also in bester James-Bond-Gegenspieler-Manier Chaos stiften. Mutmaßlich wegen solch schwer zu übersehender Parallelen heißt der weiße Wuschelhund, der das Trio um Loid, Yor und Anya famos ergänzt, Bond. Und auch er hat eine Sonderbegabung: Bond kann die Zukunft voraussehen. Manche Zuschauer können das womöglich auch und ahnen, worin das Trickfilmabenteuer gipfeln wird. Auch eine Agentenfilmparodie muß schließlich enden, wie man es von 007 – oder eben von den „Unglaublichen“ – gewohnt ist: Auf einem gigantischen Flugschiff, das der Oberst kommandiert, kommt es zu einem spektakulären Actionfinale.

Wer die Nase gestrichen voll hat von den regenbogenfarbendurchtränkten Propagandaschleudern der US-amerikanischen Animationsfilmstudios, der ist hier richtig: Loid darf den starken Mann markieren und Yor sich trotz Erfolges in einem klassischen Männerberuf noch ganz traditionell weiblich nach ihm verzehren. Anyas Mutter sorgt so für die nötige Portion Gefühl. Sie ist zwar eine immens schlagkräftige Selbst-ist-die-Frau-Frau, aber eine mit Herz und darum in ständiger Sorge, daß die auf so unsolidem Fundament stehende Familie zerbrechen, Loid sie verlassen könnte. Frauen und Kinder dürfen mit den Augen rollen und ordentlich in Tränen ausbrechen. Und Bösewicht Snidel bleibt die kitschige Katharsis zum sanftmütigen Sandalenträger erspart. Danke, Japan! Kinostart ist am 25. April