Den 300. Geburtstag Immanuel Kants haben das Berliner Philosophie Magazin und die Zeit zum Anlaß genommen für umfangreiche Sonderhefte. Sie enthalten Essays und Gespräche über sein Leben und vor allem zentrale Begriffe seines Werks. Die JF wiederum hat beide Magazine einer kritischen Bestandsaufnahme unterzogen.
„Versetzen Sie sich in meine Lage“, fleht Maria von Herbert im August 1791. „Wenn ich nicht schon so viel von Ihnen gelesen hätte, so hätte ich mein Leben gewiß schon mit Gewalt geendet.“ Mit ihrem Brief wandte sich die Klagenfurter Freidenkerin an den damals bereits berühmten Immanuel Kant aus Königsberg. Ihr Anliegen: Moralischer Beistand. „Geben Sie mir Trost oder Verdammung“, bittet sie den Philosophen.
Es gibt immer die Option für Veränderung
Die damals 32jährige hatte ihrem Liebhaber, Ignaz Ritter von Dreer zu Thurnhub, gestanden, vor ihm schon andere Männer gehabt zu haben, worauf dieser seine Geliebte todunglücklich im Regen stehen ließ. Von Herbert ist der festen Überzeugung, daß nur Kant ihr jetzt noch helfen könne. Was die junge Frau nicht verhehlt: „Metaphysik der Sitten habe ich gelesen samt den Kategorische Imperativ, hilft mir nichts.“ Ein Kompliment ist das nicht. Nun muß Kant, der die Moralphilosophie zuvor mit dem kategorischen Imperativ auf eine neue Grundlage gestellt hatte, von dieser Theorie in die Praxis treten.
Seine Auskunft: Die Verzweiflung der Dame sei keine moralische Angelegenheit, „weil nicht das Bewußtsein der Tat, sondern ihrer Folgen die Ursache derselben ist“. Sie müsse einsehen, daß sie das Richtige getan habe, dann würde sie auch aufhören, ihre Entscheidung zu bereuen. Von Herbert konnte sich allerdings nicht dazu durchringen, Kants Ratschlag zu befolgen. Der Liebeskummer war zu stark. Knappe zehn Jahre später, 1803, nahm sie sich das Leben.
Mit Episoden wie dieser, in der Kant dann doch recht hilflos wirkt, will das Philosophie Magazin das Wirken des Philosophen neu entdecken und auch erkennen. Gleich im Inhaltsverzeichnis schielt dem Leser ein skurriles Kantbildnis entgegen. Klecksend und schmierend hat der Aktionskünstler Jonathan Meese den Denker verewigt.
Diese knalltütige Perspektive hilft dabei, die nur allzu bekannten Klischees über den Autor des „Ewigen Friedens“ oder der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ abzuräumen. Manon Garcia von der Freien Universität beispielsweise malt sich in ihrem Beitrag „Was ist guter Sex, Herr Kant?“ aus ... Kant würde rot werden. Josef Früchtl auf der anderen Seite blättert die „Kritik der Urteilskraft“ durch – Kants „Ästhetik“ – und findet es dabei äußerst „schön“, daß man auch dann vortrefflich über Geschmack streiten kann, wenn sich eigentlich nicht darüber streiten läßt.
Die Stars der Sonderausgaben von Zeit und Philosophie Magazin heißen aber Lea Ypi und Markus Willaschek. Die zwei machen aus dem bekannten Philosophen im hegelschen Sinne einen erkannten. Beide haben zuletzt umfangreiche Studien über Kant vorgelegt. Ypi mit „Die Architektonik der Vernunft“ eine Rekonstruktion des Gesamtzusammenhangs der Transzendentalphilosophie. Willaschek mit „Kant“ eine Rückschau auf die philosophiegeschichtliche Wende, die von dem größten aller Königsberger angestoßen wurde.
Die im albanischen Realsozialismus aufgewachsene Ypi hebt im Gespräch mit dem Philosophie Magazin das kritische Element des kantischen Menschenbilds hervor. „Seine Theorie hat mir geholfen, darüber nachzudenken, wie der Mensch die Fähigkeit zur Moral auch unter repressiven Umständen bewahren kann“, unterstreicht sie. In der kantischen Auffassung von Freiheit gäbe es immer die Option für Veränderung. Dies sei der wichtigste Schritt im Prozeß der Aufklärung.
Kant also ein Revolutionär? So sieht es auch Willaschek. Umstürzend sei vor allem dessen These gewesen, daß sich die Gegenstände der Erkenntnis nach dem Erkenntnisvermögen des Menschen zu richten hätten, nicht umgekehrt. „Dieser Gedanke ist im Wortsinn ‘revolutionär’, weil er eine Umwälzung des herkömmlichen Verhältnisses von Denken und Realität bedeutet“, bekräftigt Willaschek im Eröffnungsartikel des Zeit-Sonderheftes. Der Professor aus Frankfurt am Main dekliniert durch, daß unser Denken Kant zufolge nicht einfach von der Realität abhänge. Vielmehr sei diese umgekehrt von den Formen unserer Gedanken bedingt. Raum, Zeit und Kausalität lägen sozusagen in uns selbst und seien nicht irgendwo „da draußen“. Dieser in der „Kritik der reinen Vernunft“ vollführte „kantische Turn“ strahle in alle Bereiche seiner Philosophie aus – Ethik, Politik und Ästhetik inbegriffen.
Gestalterisch reiht sich in der Zeit ein Aufsatz an den nächsten. Etwas langweilig, als wäre Kant ein toter Hund. Inhaltlich kann das Heft aber trotzdem brillieren. Da ist zum Beispiel der Essay von Alexander Cammann, in dem er das komplexe Verhältnis zwischen Kant und Friedrich dem Großen skizziert. Diesem hatte der Philosoph einst die „Kritik der reinen Vernunft“ gewidmet. Virtuos habe er es dabei verstanden, seine eigene Agenda hinter der Politik des preußischen Regenten zu verstecken.
Marlene Farina wiederum schaut Kant in ihrem Artikel sozusagen „live“ beim Denken zu. Die Journalistin hat die Handschriften des Königsbergers gesichtet und versucht, dessen Arbeitsweise zu verstehen. „Er notiert, streicht, notiert, streicht und so weiter. Bisweilen verwirft Kant sogar das gesamte Konzept eines Werkes: Ein Entwurf folgt dann auf den anderen“, führt sie aus. Eine äußerst spannende Spurensuche.
Sonderausgaben des „Philosophie Magazins“ und der „Zeit“ zu Kant: Beide Hefte sind im Einzelhandel für 13 bzw. 9,50 Euro erhältlich