Was ist Aufklärung? Diese Frage ist 2024 genauso drängend wie 1784, als Kant seinen berühmten Aufsatz in der Berlinischen Monatsschrift schrieb. Wer klärt wen auf? Mit welchen Mitteln? Und sollen wirklich alle daran teilhaben dürfen, wie das nun schon 300 Jahre alte Geburtstagskind aus Königsberg einst schrieb? Eben dieses Recht nimmt die US-amerikanische Philosophin Nancy Fraser derzeit für sich in Anspruch.
Der akademischen Öffentlichkeit ist die 1947 in Baltimore geborene Intellektuelle durch Studien wie „Widerspenstige Praktiken“ (2003) über die neuen sozialen Bewegungen und „Der Allesfresser“ (2023), eine Analyse des zeitgenössischen Kapitalismus, bekannt. Im Laufe ihrer Karriere lehrte sie an Universitäten in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und den Vereinigten Staaten. Insbesondere zu deutschen Kollegen hat sie dabei eine Reihe fruchtbarer Arbeitsbeziehungen aufgebaut, wie zum Beispiel zu Axel Honneth aus Frankfurt am Main oder Rahel Jaeggi aus Berlin. Mit beiden hat Fraser bereits Bücher herausgegeben oder geschrieben.
Petition „Philosophie für
Palästina“ unterschrieben
Die 76jährige ist Mitglied der amerikanischen Akademie der Kunst und Wissenschaften und war über mehrere Jahre lang in leitender Position für den amerikanischen Philosophieverband APA tätig. Ihre teils weit links stehenden Positionen fängt sie durch die Qualität ihrer Forschung auf, die ihr Denken zu einer Ergänzung in der gesamten politischen Farbenlehre macht. „Ich hege keinerlei Sympathie für eine Stimme, die dem ‘postmodernen bürgerlichen Liberalismus’ ihre Loyalität bekundet, und ich bin auch dann nicht umzustimmen, wenn sie sich als Stimme der ‘Sozialdemokratie’ vorstellt“, skizziert Fraser ihre Position bereits 1989.
In Form einer innerlinken, dabei stets an akademischen Fragestellungen sich orientierenden Selbstkritik versucht sie seither, gegen die Mißstände einer abgehobenen und abgeschotteten linken Debattenkultur anzuargumentieren. Über die von der französischen Dekonstruktion inspirierte Linke, die unter politischem Engagement versteht, vermeintlich falschen Sprachgebrauch zu kritisieren und „gefährliche“ Wörter aus dem Verkehr zu ziehen, urteilt sie: „Im allgemeinen wollten sie ‘das Politische’ unter Ausschluß der ‘Politik’ und ersparten sich so die Anstrengung, ihre theoretischen Reflexionen mit den Kämpfen und Wünschen der Zeit zu verbinden.“
Diese Kritik am Abhub intellektueller Gedankenwelten klingelt wohl auch in konservativen Ohren. In ihrer beruflichen Stellung als Wissenschaftlerin, was Kant in „Was ist Aufklärung?“ als den „Privatgebrauch der Vernunft“ bezeichnet, hat Fraser also ein unbestrittenes Renommee. Der Skandal, der sich seit März an ihren Namen knüpft, hängt kantisch gesprochen mit ihrem „öffentlichen Vernunftgebrauch“, nicht als „Expertin“, sondern als denkende Bürgerin zusammen. Als solche hatte sie im November vergangenen Jahres eine Petition unter dem Titel „Philosophy for Palestine“ unterschrieben, in dem der israelische Militäreinsatz im Gazastreifen verurteilt und ein Boykott israelischer Universitäten und Kultureinrichtungen gefordert wurde. In dem von rund 400 Wissenschaftlern mitgetragenen Schriftstück ist von einem „Massaker“, von einem „Genozid“ an der palästinensischen Zivilbevölkerung und von einem israelischen „Apartheidregime“ die Rede. „Wir laden unsere Kollegen dazu ein, sich am Boykott israelischer Forschungs- und Kulturstätten zu beteiligen, wie dieser von der BDS-Bewegung getragen wird“, heißt es in dem offenen Brief.
Die Universität Köln, die Nancy Fraser 2024 eigentlich mit der angesehenen Albertus-Magnus-Professur ehren wollte, zog diese Einladung kurzfristig zurück, als sie von der Unterschrift der Philosophin erfuhr. Der „Philosophy for Palestine“-Aufruf stelle das Existenzrecht Israels in Frage. Außerdem beziehe sich der Boykott auf israelische Institutionen im Bereich von Kultur und Bildung, mit denen man in Köln selbst zusammenarbeite. Fraser sei deshalb herzlich dazu eingeladen, auch weiterhin Vorlesungen an der Heinrich-Heine-Universität zu halten – allerdings nicht als Albertus-Magnus-Professorin.
Eine Entscheidung, die für die Ausgeladene selbst denkbar unerwartet kam. Der Universitätspräsident habe sich mit der Absage erst vor kurzem, aus heiterem Himmel, bei ihr gemeldet. „Was für eine Frechheit! Was geht es ihn an, welche Ansichten ich zum Nahen Osten habe?“, empört sich Fraser nach dem Telefonat im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau. Sie habe nie zum srael-Palästina-Konflikt publiziert und auch kein größeres Fachwissen zu diesem Thema. „Aber ich bin denkende Bürgerin.“
Frasers Fachkollegen protestieren gegen ihre Ausladung
Doch was sollten solche im Idealfall sagen dürfen? Was nicht? Was trägt zur Verständigung bei? Was nicht? Vielleicht hat Fraser diese an Kant gemahnende Selbstbezeichnung als „denkende Bürgerin“ nicht ohne Grund gewählt. „Welche Einschränkung aber ist der Aufklärung hinderlich?“, fragt der Königsberger in seiner Programmschrift „Was ist Aufklärung?“ Und er antwortet: „Der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und er allein kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen.“ Kant pro Fraser?
So einfach ist es womöglich nicht. Kants Argumentation trifft keine Aussage dazu, was sozusagen hinten beim Gebrauch der eigenen Vernunft herauskommt. Dennoch postuliert der Autor der drei Kritiken die unbedingte Möglichkeit, sich öffentlich zu äußern – und sei’s auch in der Form von Schmu. Außerdem: An der Lehre der Geisteswissenschaftlerin selbst hatte die Universität Köln nichts auszusetzen. Auch ihre Kollegen haben sich daher jüngst mit Fraser solidarisiert. Nähme die Hochschule in der Rheinmetropole ihre Verpflichtung zu einem offenen Dialog über den Nahen Osten ernst, so müßte sie ihre Ausladung unverzüglich wieder zurücknehmen, heißt es in einer Stellungnahme, die neben Nancy Frasers beiden Weggefährten Axel Honneth und Rahel Jaeggi auch zahlreiche weitere Schwergewichte der Sozial- und Geisteswissenschaften unterzeichneten. So etwa die Philosophen Christoph Menke und Martin Saar, die Soziologen Hartmut Rosa und Oliver Nachtwey und viele weitere. „Bislang wurden deutsche Universitäten als Orte des internationalen Austauschs und der ebenso international vernetzten wie öffentlich relevanten Forschung geschätzt – bliebe die Kölner Universität bei ihrer Entscheidung, würde dies diesem Ansehen und damit auch dem akademischen Leben hierzulande weiteren schweren Schaden zufügen.“
Nancy Frasers Alma Mater, die New School in New York, geht in ihrem Antwortschreiben sogar noch einen Schritt weiter. „Albertus Magnus wäre entsetzt“, konstatiert die Hochschule, die in Sachen Philosophie zu den renommiertesten Lehreinrichtungen der Welt gehört. Zur Geschichte ihres Prestiges gehört insbesondere die Arbeit deutschsprachiger Wissenschaftler wie etwa Hans Joas, Helmuth Plessner, Wolfgang Streeck, Jürgen Habermas und Niklas Luhmann. Die Ausladung Frasers sei eine Beleidigung nicht nur der Philosophin selbst, sondern auch der New School. Man werte den Schritt als Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland.
So erzählt sich die philosophische Affäre zu Köln, 300 Jahre nach dem Tod Immanuel Kants. 220 Jahre nach der Veröffentlichung von „Was ist Aufklärung?“ steht die Frage im Raum, was Philosophen sagen dürfen und was nicht. So viel hat sich scheinbar nicht geändert. Fraser, die als Intellektuelle an der Definition eines hegemonialen Diskurses mitgetan hat, aus der Andersdenkende immer schon herausgefallen sind, kann man dabei zwar die Worte Kants vorhalten: „So schädlich ist es, Vorurteile zu pflanzen, weil sie sich zuletzt an denen selbst rächen, die, oder deren Vorgänger, ihre Urheber gewesen sind.“ Um so mehr muß man sie aber gerade all den Konservativen und Liberalen entgegensetzen, die sich nun – als Empörte maskiert – darüber freuen, daß die Freiheit des „öffentlichen Vernunftgebrauchs“ nun auch für all diejenigen wegfällt, die man nunmal nicht leiden kann.
Wer wie Fraser mit dem Boykott von Universitäten und Forschungseinrichtungen kokettiert, gleichzeitig aber ein Forum für seine eigene Lehre einklagt, begibt sich auf eine abschüssige Bahn – die aber selbst nicht zu einer Zielgeraden für neue Boykottaktionen gegen Künstler, Philosophen und Wissenschaftler werden darf. Boykotte lassen sich nicht boykottieren. Oder, um es mit den Worten Kants zu sagen: „Ein solcher Kontrakt, der auf immer alle weitere Aufklärung vom Menschengeschlechte abzuhalten geschlossen würde, ist schlechterdings null und nichtig.“