© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/24 / 19. April 2024

Protest wird im Keim erstickt
Hongkong: Nur wenige sind noch bereit, in der Öffentlichkeit kritisch über die Pekinger Politik zu reden
Hinrich Rohbohm

Langsam nähern sich die Hände dem ruhig in der Sonne sitzenden Zitronenfalter. Die Flügel des Schmetterlings sind mal gespreizt, mal zusammengezogen. Was sich hinter ihm abspielt, scheint das Tier nicht zu bemerken. Ein Schatten legt sich über das Insekt. Dann, blitzschnell, greift Chen Lu zu (Name geändert). Ihre Hände umschließen den Falter, ohne ihn zu verletzen.

Die 27jährige steht im Campus-Garten der HKU, der Hongkong University, wo die junge Frau Rechtswissenschaften studiert. Weiteres über sich kann sie inzwischen nicht mehr preisgeben, wenn sie sich kritisch über die Politik Hongkongs und das kommunistische Regime in Peking äußert. Chen Lu gehörte zum inneren Kreis der Hongkonger Oppositionsbewegung. Schon als 17jährige geht sie 2014 auf die Massendemonstrationen der Regenschirm-Bewegung. Mehr als 100.000 Menschen protestieren damals gegen die politischen Eingriffe Pekings in die inneren Angelegenheiten der Hongkonger Sonderverwaltungszone, die unter dem Begriff „Ein Land, zwei Systeme“ ihren Status als Demokratie eigentlich garantiert bekommen hatte. So jedenfalls sieht es die britisch-chinesische Erklärung vor, die 1984 zwischen dem Vereinigten Königreich und der Volksrepublik zur Übergabe der Hafenmetropole unterzeichnet worden war und die ihr weitestgehende Autonomie bis ins Jahr 2047 zusicherte.

Mehr noch: Die Erklärung sicherte Hongkongs Bürgern ab 2017 freie Wahlen zu. Ein Privileg, das es nicht einmal zu britischen Kolonialzeiten gegeben hatte. Doch es sollte nicht dazu kommen. „Peking hatte sich nicht an die vereinbarten Regeln gehalten“, beklagt die angehende Juristin. Statt freier Wahlen hatte das kommunistische Regime die Bildung eines Komitees verfügt, dessen 1.200 Mitglieder von ihm selbst ausgewählt wurden. „Und dieses Komitee wählt dann die Kandidaten aus, die für das Amt des Gouverneurs antreten dürfen. Das war natürlich eine Farce“, erzählt Chen Lu.

„Peking hat sich nicht an die vereinbarten Regeln gehalten“ 

Eine, die zum Beginn der Hongkonger Oppositionsbewegung werden sollte und einen jahrelangen Kampf zwischen der pekingtreuen Stadtregierung und den Regenschirm-Demonstranten nach sich zog. Manchmal wochenlang legte die Oppositionsbewegung die Hauptverkehrsstraßen der Stadt lahm, kampierte mit Tausenden Zelten auf dem Asphalt rund um die Zentren von Causeway Bay und Admiralty. „Es war aufregend, und es herrschte eine große Solidarität unter den Hongkongern. Wir alle waren fest entschlossen, Eingriffe Pekings in unsere Demokratie nicht hinnehmen zu wollen“, erinnert sich Chen Lu an den Optimismus, der damals noch innerhalb der Oppositionsbewegung herrschte. „Hier an der HKU war die Keimzelle des Widerstands“, sagt sie. Noch 2019 glich der Campus der Universität einem Basiscamp der Protestler.

„Täglich planten wir neue Blockaden und Kundgebungen, es war eine unglaublich aufregende und bewegende Zeit.“ Chen Lu war damals mittendrin in den Widerstandskämpfen, hatte auch mit ­Joshua Wong zusammengearbeitet, dem Gesicht und der führenden Figur der Regenschirm-Bewegung.

„Wir pflegten Kontakte zur internationalen Presse, hatten WhatsApp-Gruppen mit Hunderten von Journalisten gebildet, die über unsere Aktivitäten berichteten.“ Voller Euphorie habe man gehofft, daß der internationale Druck Peking letztlich zum Einlenken bringe.

Professoren hielten pekingkritische Reden auf dem Sun-Yat-Sen-Platz des Universitätsgeländes, umgeben von Hunderten interessierten studentischen Zuhörern. Am Hauptgebäude hing damals noch ein provokanter Spruch über den Rektor der HKU: „Die Schande der Universität Hongkong. Zhang Xiang, ein Schmeichler der Kommunisten.“ Auf anderen Transparenten war der Rektor als „Verbrecher“ bezeichnet worden.

„Innerhalb der Oppositionsbewegung ist Zhang Xiang eine Haßfigur, weil er als getreuer Vollstrecker Pekings gilt“, erklärt die angehende Juristin. Heute seien solche Plakate nicht mehr möglich. „Jeder Protest wird mit sofortiger Verhaftung im Keim erstickt, sogar die Familien eines jeden Aktivisten werden unter Druck gesetzt.“ Auch die JF bekommt das zu spüren. Gespräche mit Oppositionellen, die wir 2019 auf dem Campus noch ohne Probleme führen konnten, sind nun nicht mehr so ohne weiteres möglich.

Nur wenige sind noch bereit, in der Öffentlichkeit kritisch über die Politik in Hongkong zu reden. Oppositionelle Aktivitäten können nun zu Haftstrafen führen. Darauf angesprochen, lächeln viele nur noch höflich, um anschließend schnell das Thema zu wechseln. Auch das Gespräch mit Chen Lu ist speziell. Ihre Stimme ist leise, manchmal fast flüsternd, wenn sich andere Studenten bei unserem Gang über den Campus gerade in der Nähe befinden. Manchmal hört sie abrupt auf zu reden, wenn gerade wieder eine Besuchergruppe unseren Weg kreuzt. „Festlandchinesen“, sagt sie. Verachtung ist in ihrer Stimme zu spüren. „Erkennst du gleich an ihrem schlechten Benehmen“, fügt sie wie zur Bestätigung leise an, nachdem sich die Gruppe weit genug entfernt hat.

Zhang Xiang ist noch heute Rektor der Universität, sitze jetzt fester im Sattel als je zuvor. Der Physiker mit chinesischer und amerikanischer Staatsbürgerschaft hat seine Forschungsschwerpunkte im Bereich der Nanotechnologie sowie der Biotechnologie, studierte an der Universität von Kalifornien in Berkeley und arbeitete zeitweise als Assistenzprofessor an der Pennsylvania State University.

„Er ist bis heute eng mit US-amerikanischen Forschungsgesellschaften im Bereich der Spitzentechnologien vernetzt. Der Westen ist da einfach schrecklich naiv“, bedauert Chen Lu kopfschüttelnd. 2019 hätten viele in der Opposition noch die Hoffnung gehabt, daß die westlichen Staaten, allen voran die USA und die Europäische Union, Druck auf China ausüben würden, um die Freiheit in Hongkong zu garantieren und sich an den vertraglichen Status von „Ein Land, zwei Systeme“ zu halten. „Aber diese Hoffnung von uns war ebenso naiv“, ist sie sich heute sicher.

„Der Westen agiert ängstlich, er ist nicht bereit, für Hongkongs Freiheit einen Konflikt mit China zu riskieren.“ Genau das aber werde das kommunistische Regime zu weiteren Offensiven ermutigen. „China sieht sich durch das dekadente Verhalten des Westens in seinem Vorgehen nur bestätigt. Dem Regime wird signalisiert, daß seine Rechtsbrüche folgenlos bleiben. Sein nächstes Opfer dürfte daher schon bald Taiwan sein“, ist die Studentin überzeugt.

An der HKU würden sich mittlerweile immer mehr Festlandchinesen einschreiben. Mit staatlich geförderten Besuchertouren zur Uni und vergünstigten Studienbedingungen wolle das Regime Hongkong als Studienort für loyale Kommunisten vom Festland schmackhaft machen. Darunter seien auch „bezahlte pekingtreue Spitzel“, um die Reste der Oppositionsbewegung an der HKU im Auge zu behalten. Das Regime wolle eine Dominanz der Festlandchinesen auf dem Campus erzielen, um die Uni vollkommen unter ihre Kontrolle zu bringen. „Und das gelingt ihm leider, die Opposition ist tot“, schildert Chen Lu die Situation mit bitterem Unterton.

Verantwortlich dafür ist nicht zuletzt das „Gesetz über die nationale Sicherheit“, das Hongkongs Regierung nach den Protesten von 2019 auf Druck des kommunistischen Regimes in Peking erläßt und die Behörden mit weitreichenden Befugnissen ausstattet, um gegen die demokratische Opposition vorgehen zu können. Zahlreiche Verhaftungen führender Oppositioneller folgen. Auch Joshua Wong wird so aus dem Verkehr gezogen. „Eigentlich hat er seine Strafe schon abgesessen, aber das Gericht hat ihn einfach zu einer weiteren Strafe verurteilt“, erzählt Chen Lu. Viele ihrer einstigen Mitstreiter würden sich mittlerweile ebenfalls im Gefängnis befinden.

Ein neues Sicherheitsgesetz wird das Leben noch schwerer machen

Im Dezember vorigen Jahres hatte die Polizei von Hongkong Kopfgelder in Höhe von einer Million Hongkong-Dollar (120.000 Euro) auf fünf ins Ausland geflohene Oppositionelle – Simon Cheng Man-kit, Frances Hui Wing-ting, Joey Siu Nam, Johnny Fok Ka-chi und Tony Choi Ming-da– ausgesetzt, die gegen das nationale Sicherheitsgesetz verstoßen haben sollen. Der Vorwurf: Anstiftung zur Sezession und Subversion sowie Absprachen mit dem Ausland oder externen Elementen zur Gefährdung der nationalen Sicherheit. Von diesen Maßnahmen eingeschüchtert, hätten sich weitere Oppositionelle aus der Demokratiebewegung zurückgezogen.

Die WhatsApp-Gruppen mit den Journalisten sind weitestgehend aufgelöst, ebenso die von ­Joshua Wong als Generalsekretär angeführte Oppositionspartei Demosisto. Am 23. März dieses Jahres ist nun eine Verschärfung des Sicherheitsgesetzes in Kraft getreten, die die pekingtreuen Hongkonger Regierungsbehörden mit weiteren Befugnissen ausstattet. Wer sich ab jetzt gegen den Staat auflehne, werde demnach mit lebenslanger Haft bestraft.

„Das neue Sicherheitsgesetz wird unser Leben in der Stadt massiv verändern und sich wie ein Schatten über unsere Freiheit legen“, orakelt Chen Lu. So wie sich der Schatten über den nichtsahnenden Schmetterling legte, den die Studentin einfängt. Für einige Sekunden ist das Tier in der Hand gefangen. Dann öffnet die Demokratie-Anhängerin ihre Hand wieder. „Ich schenke dir die Freiheit“, sagt sie zu dem Tier mit einem Lächeln im Gesicht. Sie weiß inzwischen nur zu gut, was sie wert ist.


Fotos: Protest gegen Pekings Politik ist nur in London möglich: „Hongkong ist nicht China“, Kopfgelder in Höhe von 120.000 Euro: Suche nach Oppositionellen