Rußlands Umgang mit Immanuel Kant mutiert vom Politikum zur Groteske. Noch vor zwei Jahren legte der russische Präsident Wladimir Putin Wert darauf zu betonen, daß Kant, der deutsche Philosoph, von 1758 bis 1762 unter zaristischer Herrschaft lebte vergangenen. Zugegeben nur für vier Jahre, aber immerhin. Diese so positive wie auch vereinnahmende Sichtweise auf den größten deutschen Aufklärer der Neuzeit hat sich grundlegend geändert. Aktuell überbietet sich die russische Administration mit der Verteufelung des Königsbergers.
Kein Wort mehr von einer russischen Vereinnahmung. Aus Kant ist der ewige böse Deutsche geworden. Er hat nicht nur schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges, sondern ist ebenso verantwortlich für den Ukraine- Krieg. „Heute, im Jahr 2024, sind wir kühn genug zu behaupten, daß nicht nur der Erste Weltkrieg mit dem Werk Kants begonnen hat, sondern auch der aktuelle Konflikt in der Ukraine.“ So berichtete im Februar dieses Jahres die in Königsberg (Kaliningrad) erscheinende Zeitung RUGard und zitierte den Gouverneur der russischen Exklave Kaliningrad, Anton Alichanow.
Das Königsberg, das Kant beschrieben hatte, ging unter
Am 9. Februar hatte Alichanow vor einer Versammlung russischer Politikwissenschaftler im Seebad Rauschen (Svetlogorsk) gesagt: „Hier im Kaliningrader Gebiet wagen wir die Behauptung – wobei wir uns eigentlich fast sicher sind –, daß gerade in Kants Kritik der reinen Vernunft und seiner Grundlegung der Metaphysik der Sitten [...] die ethischen, wertbezogenen Grundlagen des gegenwärtigen Konflikts gelegt wurden.“
Alichanow scheint geradezu prädestiniert dafür, die Geschicke des nördlichen Ostpreußens zu lenken. Ist er doch in der georgischen Hafenstadt Sochumi geboren. 1992 bis 1994 ermordeten und vertrieben tschetschenische und russische Freischärler die georgische Bevölkerung aus der Stadt und dem Gebiet, das heute die Hauptstadt der Republik Abchasien ist. Alichanow ist seit 2016 Gouverneur in der Oblast Kaliningrad und trat ein Jahr später der vom Putin-Ziehkind Dimitri Medwedew geführten Partei Einiges Rußland bei. Sie hält eine Zweidrittelmehrheit in der Duma, wird als rechts-konservativ bezeichnet. Wenn also Alichanow sich so über den Deutschen Kant äußert, scheint es Parteilosung und damit Putinvorgabe zu sein.
Doch die Kritik an seiner Aussage wartete nicht lange. Die kremlkritische Online-Zeitung Novaya Gazeta Europe fragte Nikolai Plotnikov, Professor für Geistesgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum an, warum Alichanow gegen Kant in den Krieg zöge? Die Zeitung zitiert ihn: „Um seine Aussage zu rechtfertigen, mußte der Gouverneur in einen Kofferraum mit altem intellektuellem Gerümpel greifen und eine von Motten zerfressene These von Wladimir Ern herausholen, einem der Begründer des russischen philosophischen Chauvinismus, der vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs berühmt wurde, weil er Kants Philosophie zur Ursache des deutschen Militarismus erklärte“, so der Historiker. Ern sei ein Neo-Slawophiler gewesen, der Kants Kritik an den Dogmen der alten Philosophie mit Krupps Kanonen verglich, die europäische Städte zerstörten. Er forderte, das russische Denken von der lästigen Last des kantischen Rationalismus zu befreien.
Ob die Feierlaune den Russen nun vergangen ist? Dabei sollte sie doch so schön werden, die 300. Geburtstagsfeier des Immanuel Kant in Königsberg. Eine Philosophieolympiade ist geplant und ein internationaler Kongreß. Planungen, die noch direkt auf einen Putin-Erlaß aus dem Jahr 2022 zurückgehen.
Kant liebte seine Heimatstadt. 1798 begründete er in seiner Vorrede der „Anthropologie“, warum er Königsberg fast nie verließ: Hier fand er den Regierungssitz, eine Universität und einen Hafen, der verschiedene Sprachen und Sitten konzentrierte. „Eine solche Stadt, wie etwa Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz zu Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis genommen werden, wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann.“
Obwohl es heute noch eine Universität, einen Hafen und einen Regierungssitz gibt, ist dieses Königsberg, von dem Kant schreibt, untergegangen. Jegliche Erinnerung an 800 Jahre deutsche Zivilisation wurde zerstört, die noch bestehenden Gebäude abgerissen. Stalin siedelte Russen an, in Trabantenstädte, die heute selbst Ruinen gleichen. Jetzt leben sie abgeschottet, fast kaserniert. Was bleibt sind Autos deutscher Bauart, die über altes deutsches Kopfsteinpflaster fahren und Königsberger Marzipan, das im Museum feilgeboten wird. Natürlich mit dem Schriftzug Königsberg. Die Russen machen Kant zu einer Art Maskottchen. Im Dom, der mit deutschen Spendengeldern wieder aufgebaut wurde, und in dem innen russische Teppiche liegen, begrüßt ein virtueller Kant die Besucher, selbstverständlich in fließendem Russisch.
Ein Streit über Kant endete mit Schüssen
In einem sind sich Polen und Russen, die sich die ostpreußische Beute teilten, einig: Der verhaßte Name mußte getilgt werden. Seit 1255 hieß die Stadt Königsberg. Die Russen nennen sie seit 1948 Kaliningrad, nach dem Polenschlächter Michail Iwanowitsch Kalinin. Kein Wunder, daß die geschichtsbewußten Polen, aber auch die baltischen Länder, sie umbenennen wollen. Die Polen machen nun aus Kaliningrad Królewiec, was nichts anderes als Königsberg heißt. Ihre Umbenennung veröffentlichten sie am 10. Mai 2023. Zufällig zur russischen Siegesfeier über Deutschland.
Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sprach von einer „Entscheidung am Rande des Wahnsinns, einer feindlichen Handlung“. „Wir wissen aus der Geschichte, daß Polen von Zeit zu Zeit in einen Rausch des Hasses gegen die Russen verfallen ist. Dieses Phänomen ist im 16. und 17. Jahrhundert und sogar noch früher wiederholt aufgetreten. Das ist weder für Polen noch für die Polen gut“, fügte Peskow hinzu.
Apropos, Kant provoziert nicht nur Staaten. Im September 2013 berichtete die Polizei aus Rostow am Don, daß zwei Kunden in einem Lebensmittelladen über den Philosophen in Streit gerieten. Statt sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, nutzte der eine seine Pistole und feuerte mehrere Gummigeschosse auf den anderen ab. Der überlebte.