© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/24 / 19. April 2024

Die Mitte verliert das Vertrauen
Bertelsmann-Studie: Die klassischen Mittelstands-Milieus wenden sich von den etablierten Parteien ab / Profitieren davon kann auch die AfD
Lorenz Bien

Wütende Landwirte, die den Rücktritt der Ampel fordern. Mehrere tausend Menschen, die im bayerischen Erding gegen ein Heizungsgesetz protestieren. Ein stellvertretender Ministerpräsident, der trotz Rechtsextremismus-Vorwürfen in der darauffolgenden Wahl kräftig zulegen kann, die AfD als zweitstärkste Kraft in Umfragen und ein Sahra-Wagenknecht-Bündnis, das seine Mutterpartei mutmaßlich aus mehreren Landtagen verdrängen wird. Die politische Landschaft Deutschlands hat sich in den vergangenen Monaten stark gewandelt.

Wie eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt, handelt es sich dabei um eine durchaus tiefgreifendere Entwicklung. Demnach haben viele bürgerliche Milieus Deutschlands in den vergangenen Jahren zunehmend das Vertrauen in die „Parteien der Bonner Republik“ verloren, also Union, SPD, Grüne und FDP. Obwohl diese jahrzehntelang dessen Wählermilieu stellte. Auch die Zukunft wird von vielen zunehmend pessimistisch gesehen. Die Studie unterscheidet dabei zwischen einem Nostalgisch-Bürgerlichen Milieu, das nach „einem hohen Maß an Sicherheit und Harmonie“ strebt und Neuerungen eher kritisch gegenübersteht. Dem gegenüber steht die Adaptiv-Pragmatische Mitte, die geprägt ist durch „eine hohe Anpassungs- und Leistungsbereitschaft“, sich aber ebenfalls nach Sicherheit und Stabilität sehnt.

Besonders in diesen beiden Milieus hat das Vertrauen in die Zukunft und die Politik abgenommen. Während im Jahr 2022 noch 70 Prozent der Adaptiv-Pragmatischen Mitte nach eigener Angabe „sehr“ oder „eher optimistisch“ in die Zukunft schauten, sind es gegenwärtig nur noch 50 Prozent. Im Nostalgisch-Bürgerlichen Milieu schrumpfte der Wert von 45 Prozent auf 26 Prozent der Befragten. Zeitgleich verliert auch die Ampel-Regierung in der Adaptiv-Pragmatischen Mitte massiv an Ansehen. 

Im Vergleich zum Ergebnis der Bundestagswahl 2021 verliert die Regierungskoalition 22 Prozentpunkte an Ansehen. Während die Union davon nur leicht profitiert und drei Prozentpunkte dazugewinnt, sind es bei der AfD ganze 14 Prozentpunkte. Das sei besonders bemerkenswert, schreiben die Autoren der Studie, da „die pragmatische Mitte“ lange zu den „Stammwähler-Milieus“ der Unionsparteien gehörte. 

„Neue soziale Konfliktlinie zur Demokratie möglich“

Noch dramatischer ist der Vertrauensverlust der Ampel offenbar im Nostalgisch-Bürgerlichen Milieu. Ganze 29 Prozentpunkte verliert das rot-grün-gelbe Bündnis hier im Vergleich zur vergangenen Bundestagswahl. Während die Unionsparteien davon mit einem Zuwachs von sieben Prozent Zustimmung profitieren, sind es bei der AfD ganze 15 Prozent. 

„Die AfD hat damit im Stimmungsbild der Nostalgisch-Bürgerlichen Mitte derzeit die Marktführerschaft übernommen und liegt mit 34 Prozent und einem doppelt so starken Zuwachs seit der Bundestagswahl deutlich vor der CDU/CSU“, heißt es in der Studie. Auch das Bündnis Sahra Wagenknecht kann in beiden Milieus punkten. Ganze neun Prozent legt die neue Partei im Nostalgisch-Bürgerlichen Milieu zu, bei der Adaptiv-Pragmatischen Mitte sind es vier Prozent. Die Daten zeigen zudem auch eine mögliche „neue soziale Konfliktlinie der Demokratie“. Während in den verschiedenen Oberschichts-Milieus die Zustimmung zu den „Bonner Parteien“ bei 68 Prozent bis 73 Prozent liegt, ist sie bei Mittelschichts- und Unterschichts-Milieus deutlich niedriger ausgeprägt. Lediglich das Neo-Ökologische-Milieu und die Adaptiv-Pragmatische Mitte befürworten die etablierten Parteien mit bis zu 56 Prozent. Im geringverdienenden Prekären Milieu empfinden lediglich 44 Prozent der Befragten Sympathien.

Um die Zustimmung zu den sogenannten etablierten Parteien wieder zu erhöhen, schlägt die Stiftung vor allem Investitionen in die Infrastruktur des Landes vor. Demnach befürwortet eine Mehrheit die Abschaffung der Schuldenbremse. Mit Investitionen in die Zukunft sehe sich die Mitte in „ihrer Selbstwirksamkeit gestärkt“.