Mechanisierte Feindspitzen in Zugstärke rund 2.000 nordwestlich vor Schnöggersburg aufgeklärt. Feind bewegt sich mit Kampfpanzern in Richtung Bahnhofsviertel“, melden die Aufklärer der Manövertruppe „Blau“ in verschlüsselten Funksprüchen an den beweglichen Brigadegefechtsstand des Kommandeurs, der in seinem Transportradpanzer „Boxer“ die digitale Lagekarte führt. Was die Besatzungen der Spähwagen „Fennek“ weit vor der eigenen Kampftruppe mit ihren weitreichenden Tag-
licht- und Infrarotkameras, Aufklärungsdrohnen vom Typ „Aladin“ und Bodensensoren erspähen, wird sich wenige Minuten später in eine gefechtsentscheidende Lageinformation verdichten.
Mittlerweile rollt jetzt ein Dutzend postsowjetischer T-80-Kampfpanzer auf den Hauptbahnhof der Stadt zu, einen operativ bedeutsamen Verkehrsknotenpunkt und militärisches Schlüsselgelände für den feindlichen Nachschub. Nur wenige Augenblicke später peitscht die Hochgeschwindigkeitsmunition auf, alles Übungsgranaten wohlgemerkt. Im Sekundentakt drängen panzerbrechende Geschosse aus den Mündungen ihrer Glattrohrkanonen.
Rasch entbrennt der von „Blau“ erwartete feindliche Angriff, als sich norwegische Leopard 2A4 Kampfpanzer mit den Panzerkräften „Rot“ duellieren. Mit tödlichem Verlauf: erste Ausfälle bei „Blau“ machen ein taktisches Ausweichen erforderlich, um erneut zum Gegenstoß antreten zu können. Die Manöverpartei Rot, das ist dabei ein realistisch operierender Kampfverband, der regelmäßig durch hochprofessionelle Feinddarsteller der Bundeswehr gespielt wird.
Der vielzitierte „scharfe Schuß“, der hier die Stille des Naturrefugiums Colbitz-Letzlinger Heide bei Gardelegen so jäh zerreißt, ist Teil des Nato-Großmanövers „Steadfast Defender“ – auf deutsch: standhafter Verteidiger –, mit dem die Allianz derzeit auf einer 2.800 Kilometer langen Verteidigungslinie die Abwehr eines russischen Großangriffs auf die Ostflanke des trans-
atlantischen Bündnisgebiets trainiert (JF 7/24).
Rund 40 Kilometer nördlich von Magdeburg entfernt, umspannt die Letzlinger Heide mit dem größten Lindenwald Europas einen großdimensionierten Truppenübungsplatz. Das dort seit rund zwei Jahrzehnten in die Altmark eingebettete Gefechtsübungszentrum Heer (GÜZ H) mit seiner taktisch versierten Truppe, die im Manöver die Feindseite Rot darstellt, symbolisiert so etwas wie die hohe Schule der taktischen Landkriegsführung. Und so führt das heftige Panzergefecht am Bahnhof der rein zu Übungszwecken errichteten fiktiven Stadt Schnöggersburg auch in jenen potentiellen „Schießkrieg“, in dem deutsche Streitkräfte künftig „siegfähig“ bestehen sollen. Seit dem militärpolitischen Paradigmenwechsel hin zur martialischen Vokabel von der unbedingten „Kriegstüchtigkeit“, die Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) bei der Bundeswehrtagung im November 2023 mit den Verteidigungspolitischen Richtlinien öffentlich verkündet hatte, erreicht die Nachfrage nach einem Training im GÜZ H einen Höhepunkt – sowohl von seiten der Bundeswehr als auch ihrer Alliierten.
So wie Anfang dieses Monats, als die „Standhaften Verteidiger“ der Nato in der Altmark erneut Präsenz, Stärke und Zusammenhalt gegen potentielle Aggressoren demonstrieren sollten. Konkret im deutschen Manöverformat „Quadriga 2024“ während der Übung „Wettiner Schwert“, die unter Führung der sächsischen Panzergrenadierbrigade 37 mit einem multinationalen Gefechtsverband aus norwegischen und tschechischen Kampftruppenbataillonen im sogenannten Trainingsareal „Urbaner Ballungsraum Schnöggersburg“ stattfand.
Im Schwerpunkt des Manöverszenarios: Der Gegenangriff auf die Geisterstadt mit dem Ziel, die zuvor vom Feind besetzten Schlüsselinfrastrukturen Hauptbahnhof und Flughafen zurückzuerobern und den Gegner schließlich restlos zu zerschlagen. Für das dafür intensiv zu trainierende Kriegsbild „Orts- und Häuserkampf“ verfügt die GÜZ-Kampfstadt mittlerweile über eine nahezu idealtypische Trainingslandschaft, die in Europa einmalig ist. Um den trainingsspezifischen Hightech-Standard für militärische Operationen in Stadtgebieten so realistisch wie möglich abbilden zu können, sind seit dem ersten Spatenstich im Jahr 2012 über 260 Millionen Euro in die auf sechs Quadratkilometern aus 520 Einzelgebäuden bestehende und durch ein 16 Kilometer Straßennetz verbundende Übungsanlage investiert worden. Schnöggersburg kann mit Fug und Recht als „Lasercity“ bezeichnet werden.
Denn trotz der militärischen Leitdoktrin, „Übe, wie du kämpfst“, fällt bei den oftmals hochkomplexen Einsatzaufträgen kein einziger scharfer Schuß. Das liegt daran, daß der unter Militärs als „Blutmühle“ geltende Orts- und Häuserkampf in diesem Stadtkampfareal in einer lückenlos vernetzten Simulationslandschaft trainiert werden kann. Neben der Auswerte- und Übungszentrale, dem vollständig digitalisierten Herzstück der Anlage, die sämtliche Manöverelemente über GPS-Anbindungen und mobile sowie stationäre Video- und Funkdatenknoten vernetzt, verfügt die Systemtechnik über weitere Hard- und Software-Komponenten, die im Zusammenspiel das „Gläserne Gefechtsfeld“ entstehen lassen.
Ob „Blaue“ oder „Rote“ gewinnen, steht nicht fest
Möglich wird das anhand des „Ausbildungsgeräts Duellsimulator“ der zweiten Generation (AGDUS 2.0) – einer bedienerfreundlichen und gewichtsoptimierten Neuentwicklung mit Akkulaufzeiten, die durchlaufende Drei-Tage-Übungen ermöglicht und neben allen Infanterie- und Panzerabwehrwaffen auch den Handgranateneinsatz und den Feuerkampf auf kürzeste Distanz innerhalb von Gebäuden für die Soldaten realistisch abbildet. Eine gleichartige Lasersimulationsvernetzung besteht auch mit nahezu allen Gefechtsfahrzeugen. Mit einer Sende- und Empfängereinheit eingerüstet, sind während des Laserduells die unterschiedlichsten Treffer- und Getroffen-sein-Modi anzeigbar: vom Tod bis zur Schwerstverwundung, Totalverlust oder Teilausfall eines Waffensystems läßt sich alles simulieren.
Weitere Synergieeffekte stellt das weltweit einzigartige „Mobile Auswertesystem Infanterie-Einsatz“ (Masie) dar. Mit ihm lassen sich flächendeckend Waffenwirkungen auf Gebäude plastisch darstellen, bis hinein in Tunnel- und Kanalisationsanlagen. Möglich wird der manövertaktische Röntgenblick durch Detektoren an den Außenfassaden in Kombination mit Empfängerbaken, die beispielsweise einen Panzerbeschuß wie im echten kriegerischen Gefecht ins Gebäudeinnere übertragen. Zusätzlich versorgt eine Vielzahl von Innen- und Außenkameras die Auswerte- und Übungszentrale mit 38 parallelen Livestreams.
Kein Wunder also, daß das GÜZ H mit dem Leuchtturmprojekt Schnöggersburg längst an jährlich 240 Manövertagen vollausgebucht ist – und derweil auch Begehrlichkeiten bei polizeilichen Spezialkräften geweckt hat. Freilich nicht ohne politische Störgeräusche. So macht die Linkspartei in Sachsen-Anhalt seit Jahren gegen das Trainingsareal mobil. In Schnöggersburg werde „der Angriffskrieg geübt“, behauptete der Landesverband. Die Stadt sei angeblich so angelegt, daß man auch den Einsatz im Inneren, etwa die gewaltsame Niederschlagung zivilgesellschaftlicher Protestbewegungen üben könne.
Derartige Szenarien stehen jedoch nicht auf dem Übungsplan. Statt dessen müssen sich beim simulierten Gefecht um den Hauptbahnhof der Geisterstadt die deutschen, norwegischen und tschechischen Soldaten der „blauen“ Seite auf den Kampf in der Nacht vorbereiten. Ob sie ihn am Ende gegen die „Roten“ gewinnen, bekommen die als Manöverbeobachter angereisten Medienvertreter nicht mehr mit. Um die Übungen so realistisch wie möglich zu gestalten, wird vorher nie festgelegt, wer Sieger und wer Verlierer ist.
Kampfstadt: Das militärische Trainingsareal „Urbaner Ballungsraum Schnöggersburg“ ist eine von der Firma Rheinmetall speziell für den Orts- und Häuserkampf in einem ein Public-Private-Partnership-Verfahren errichtete fiktive Metropole, die über 520 Gebäude verfügt. Es gibt ein Altstadtviertel und ein Elendsquartier, einen Regierungsbezirk, ein Stadion und eine Autobahntrasse mit Kreisverkehr, einen U-Bahn-Schacht mit drei Stationen, außerdem fünf Brücken, die sich hydraulisch in die Modi teilzerstört oder kriegszerstört schwenken lassen. Zudem können Transportflugzeuge dort starten und landen. Einen ähnlichen Ort hatte Rußland bei Rheinmetall bestellt, kurz nach der Krim-Annexion stoppte die Bundesregierung den Export. (vo)
Fotos: Soldaten sind beim Häuserkampf mit Sensoren ausgestattet, mit denen sich Treffer simulieren lassen: „Feind bewegt sich Richtung Bahnhof“, Bundeswehr übt im „Urbanen Ballungsraum“ in der Altmark: Ideale Trainingslandschaft