© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/24 / 19. April 2024

„Der wohl vorzüglichste Denker“
Interview: Unter Deutschlands Großen zählt er zu den Größten: Vor 300 Jahren wurde Immanuel Kant geboren. Warum der Ausnahmegelehrte zum Epochenmacher wurde, erklärt der Philosophiehistoriker Steffen Dietzsch
Moritz Schwarz

Herr Professor Dietzsch, Sie zitieren Friedrich Hölderlin, Immanuel Kant sei „der Mose unserer Nation“ 

Steffen Dietzsch: Ja, weil es die grundlegende Bedeutung Kants auch für unsere Gegenwart expliziert: da damit gleichermaßen Nähe und Ferne des Königsbergers zusammengedacht werden kann. Auch Goethe hat – lange nach Kants Tod – einmal in einem Gespräch mit Eckermann darauf hingewiesen, daß Kant in bezug auf das zeitgenössische philosophische Panorama wohl der vorzüglichste Denker ist, der in unsere deutsche Kultur am tiefsten eingedrungen sei. Kants Denken liegt der kognitiven und ethischen Ausprägung in Deutschland und großer Teile der Welt bis heute zugrunde.

Ist Kant also ein Denker der Moderne?

Dietzsch: So kann man ihn, neben vielen Nachgeborenen, sehen, denn er hat als einer der ersten die Philosophie vom Anspruch des Denkens sub specie aeternitatis befreit, und er hat schließlich alle Versuche zu einer Theodizee aufgegeben. Das hat ihm zum Beispiel Heinrich Heine überrascht zugestanden, als er schrieb, bei Kant schwimme Gott unbewiesen in seinem Blute mit. Kant ist es zu Recht als modern nachgerühmt worden, das philosophische Denken sozusagen „umgekehrt“ zu haben und zwar in dem Sinne, wie Kopernikus das planetare Denken umgekehrt hatte. 

Immanuel Kant ist nicht nur ein deutscher Denker, 2010 erschien Ihr Buch „Kant der Europäer“.

Dietzsch: Natürlich ist er auch ein europäischer Denker, obwohl er Europa selber nicht in Augenschein genommen hat – dieses sozusagen empirische Verfahren, um Erfahrungen zu generieren, war für Kant durchaus entbehrlich. Denn er arbeitete in einer europäischen Metropole, in einer der ein Dutzend europäischen Hafenstädte von Byzanz bis Sankt Petersburg , die den wirtschaftlichen und intellektuellen Aufstieg Europas mitgetragen haben. Kant betonte von seinem Königsberg, wo er 1724 geboren wurde, es sei ein – begnadeter – Ort zur „Erweiterung der Menschen- als auch der Weltkenntnis“, die man auch ohne zu reisen erwerben könne.

Was hat man unter dieser Revolution der Denkungsart zu verstehen?

Dietzsch: Wir wollen die Dinge nicht mehr sozusagen „dinglich“ erkennen, sondern „relational“ – das heißt immer in bezug auf die erkennende Subjektivität. Kant versucht das Wesentliche der Dinge nicht mehr „hinter“ ihrer Erscheinung in einem verborgenen Raum des Wesens zu finden, sondern er sucht das Wesen in den Erscheinungen selbst. Fortan ist Erkenntnis an Erscheinung gebunden. Das heißt aber auch, fortan können Denken und Erkenntnis unterschieden werden – nicht alles, was ich mir denken kann, kann deshalb auch schon Anspruch auf Erkenntnis haben. Kant-technisch gesprochen heißt das: die Sinnlichkeit wird realisiert, indem der Verstand eingeschränkt wird. 

Das bedeutet?

Dietzsch: Umgangssprachlich formuliert: Erkennen heißt, „kleine Brötchen“ zu backen. Seit Kant können wir methodisch verschiedene Sprach- oder Rede-Sorten unterscheiden: wir können erkennen, glauben, hoffen oder meinen. 

Im Menschen aber verbinden sich doch diese vier Eigenschaften oder Vermögen, mit der Welt umzugehen. Wie bestimmt dann Kant den Menschen?

Dietzsch: Der Mensch ist natürlich nicht bloß eines von diesen, er ist immer das alles zusammen. Hier gilt Novalis Einsicht: „Identität ist ein subalterner Begriff.“ Das aber heißt, der Mensch ist ein paradoxes Wesen: er ist, sagt Kant, von so krummem Holz, daß aus ihm nichts ganz Gerades gezimmert werden kann. Er lebt alltäglich im Antagonismus „ungeselliger Geselligkeit“, das heißt, er ist immer in Distanz und Nähe zu Anderen. Der Mensch ist also ein gesellschaftliches Wesen, aber immer auch mehr als eine bestimmte Gemeinschaft, immer mehr als bloß seine Polis. Er ist als Einzelner Menschheit. Das heißt aber auch, sich immer dieses menschheitlichen Anspruchs gemäß zu verhalten. Das Weltbürgerliche des Menschen ist nur als immerwährende Arbeit an der eigenen Selbstzivilisierung zu behaupten. 

Ist also der kantische Weg in die Subjektivität ein Merkmal seiner Modernität?

Dietzsch: Dessen transzendentale Subjektivität ist ein auch terminologischer Ausweis seiner Modernität. Er hat damit einen Weg zu einem modernen Gesellschaftsbegriff vorbereitet. Denn er hat das die Menschen abstrakt Verbindende zu konzeptualisieren vermocht: Er hat verstanden, daß im Subjekt, das lange nur bloß als empirischer Körper bedacht wurde, ein ideeller „Gesamtkörper“ mitzudenken ist, der es erlaubt, zu begreifen, daß der Mensch nicht mehr zuallererst äußerliche, empirische Verhältnisse zu anderen einzugehen hat, sondern vor allem ein Selbstverhältnis ausweist und bildet. Damit konnte der Begriff Gemeinschaft, der die Menschen bloß naturalistisch verband, durch Blutsbande, wie Clan- oder völkische Zusammenhänge, überwunden werden. Und es war möglich geworden, den Menschen neu zu bestimmen als „Citoyen du monde“. 

Ist dessen Lebensform in Kants „Kategorischem Imperativ“ zusammengefaßt? Der ja bekanntlich lautet: „Handle nur nach jener Maxime, von der du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Dietzsch: Dieses Normativ steht natürlich unter dem hier nicht explizit ausgesprochenen fundamentalen Erfordernis der Selbsterhaltung. Wenn sich Gewalttäter diesen kantischen Imperativ zu eigen machen sollten, dann würden sie schnell bemerken, daß es wohl immer wieder noch Stärkere gibt und am Ende die universelle Gewalt allem ein Ende setzen wird.

Hat sich die Modernität des kantischen Denkens über Deutschland hinaus schnell verbreitet?

Dietzsch: Das setzte sich erst lange nach seinem Tod im Jahre 1804 durch, nämlich etwa ab 1840 dank eines Neukantianismus – der übrigens von Anfang an vor allem von jüdischen Denkern mittragen wurde, wie Hermann Cohen, Ernst Cassirer, Benzion Kellermann oder Salomo Friedlaender – und zwar erst national, dann international. Zum 100. Todestag 1904 und dann seit seinem 200. Geburtstag 1924 gilt Kant bereits als großer Weltphilosoph und wird überall gelehrt, wo abendländische Philosophie etwas gilt. 

Kant war der Meinung, wir leben zwar nicht in aufgeklärten Zeiten, wohl aber doch im Zeitalter der Aufklärung. Wie ist diese Differenz zu verstehen?

Dietzsch: Diesen Unterschied können auch wir heute noch betonen, das heißt, er ist auch für unsere Zeit ein Problem. Zur Aufklärung gehören natürlich – sozusagen objektiv – deutliche Fortschritte in wissenschaftlicher, technologischer und sozialreformerischer Hinsicht. Aber um diese Umstände auch – sozusagen subjektiv – mit persönlichem Engagement begleiten zu können, sind hier ein paar deutliche Anstrengungen hinsichtlich unserer operativen Kräfte nötig: Zweierlei muß der unternehmen, der als Aufgeklärter will gelten können. 

Nämlich? 

Dietzsch: Erstens gehört dazu der Mut zum Sel­berdenken. Das aber heißt anders zu denken, als man es aufgrund von Herkunft, Stand oder Amt oder herrschender Zeitansichten gewohnt ist. Damit befreit man sich aus dem, wie Kant sagt, „Joch der Unmündigkeit“. Zum zweiten gehört dazu, daß man sich auch aus der ebenfalls selbstverschuldeten Vormundschaftlichkeit verabschiedet. Erst wenn die Persönlichkeit sich von Unmündigkeit wie von Vormundschaft befreit, wird Aufklärung auch von Aufgeklärten betrieben werden können. 

Aber haben Kants kalter Blick der rein nüchternen Erkenntnis, seine strenge Vernunft, die nur duldet, was zum Wohle aller ist und seine Vorstellung einer rigiden Moral, die stets zum Gesetz für alle taugen muß, nicht auch etwas Aseptisches, Unmenschliches, Überzüchtetes, ja latent Totalitäres?

Dietzsch: Ganz im Gegenteil! Wenn Sie das denken, dann lassen Sie den operativen Dreh- und Angelpunkt seiner Philosophie außer acht, nämlich: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, ohne Leitung eines anderen!“ Das ist das Leitmotiv der Aufklärung. Aufklärung ist also nicht zuerst ein Problem des Wissens und seiner Anreicherung, sondern ist als ein auf Haltung, Freiheit und Selbsterziehung des Menschen selbst gemünztes Programm der Vervollkommnung bezogen. Kants Philosophie ist eine strikte Aufforderung zu perspektivischer Selbstkritik und somit das gerade Gegenteil von Orthodoxie, Rigorismus oder gar Totalitarismus.

Doch was, wenn zwei Werte im Widerspruch stehen? Beispiel Masseneinwanderung und Souveränität: Einerseits kann man nach Kant nicht einfach die Grenzen schließen, andererseits zerstört dies nicht zu tun auf lange Sicht die Gesellschaft.  

Dietzsch: Die Antwort darauf steht in seinem Werk „Zum ewigen Frieden“ von 1795: Der Staat gewährt Gastrecht – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Und im Zweifel entscheidet Kant nach dem Prinzip: Kann jeden aufzunehmen allgemeines Gesetz sein? Sie haben die Antwort doch schon selbst gegeben: „Auf lange Sicht zerstört dies die Gesellschaft.“

Trotzdem, jeder weiß doch, daß das Leben komplexer ist als jedes philosophische System.

Dietzsch: Das stimmt, und das weiß auch Kant: Er ist Idealist, kein Utopist. Das heißt, er strebt zwar nach dem Ideal, aber ihm ist klar, daß es niemals zu erreichen ist. Er weiß, daß auch seine Gesellschaft nicht perfekt sein wird – hofft aber, daß sie zumindest besser sein kann. Das gleiche gilt für den Menschen, der für Kant ein widersprüchliches, mit Mängeln behaftetes Wesen ist. Kant träumt aber nicht von einem von allen Nöten befreiten, glücklichen, neuen Menschen. Er glaubt jedoch, daß der mündige Mensch in einem Gleichgewicht von Freiheit und Verantwortung zumindest ein besseres Leben führen kann. Bezeichnend ist, daß etwa Lenin seine Revolutionäre streng ermahnte, das Kant-Lesen einzustellen. Eben weil er erkannte, daß dessen Philosophie für seine Zwecke überhaupt nicht zu gebrauchen, ja hinderlich ist. 

Gibt es neben seinen Botschaften für die ganze Menschheit ein Vermächtnis Kants für uns Deutsche?

Dietzsch: Wir Deutsche, so hat es mal der späte, allzuspäte Aufklärer Friedrich Nietzsche gesagt, hätten kaum einen Sinn für das Wort „Sein“, wir interessieren uns nur für das „Werden“. Und dazu hat Kant viel beigetragen. Kant wurde einmal gegenüber Gottfried Wilhelm Leibniz vorgezogen, weil er gegen dessen Rationalismus am philosophisch Besten des 18. Jahrhunderts festgehalten habe: am Sensualismus und der Sinnlichkeit. Mit Kant also wollen wir der Erde treu bleiben. Und mit Kant wollen wir immer in Erinnerung dessen leben, daß wir nie mehr als Menschen sind: Wir verändern uns ständig, überprüfen, kritisieren und korrigieren uns und die Dinge. Resultate sind uns Deutschen kein bleibendes Ergebnis, sondern nur transitorische Übergänge zu neuen Resultaten, beständig schmieden wir an der Kette des Entdeckens und Erkennens und finden nie zur Ruhe. Wir verlachen alle letzten Gefechte und alle jüngsten Gerüchte, überhaupt alles Letzte. Diese Rastlosigkeit ist uns Deutschen Segen und Fluch zugleich, denn immer wieder hat es uns an die Spitze von Modernisierung, neuer Ideen und Bewegungen geführt. Wenn aber solche in einem Abgrund enden, so sind wir Deutsche es auch, die sich voran in diesen stürzen.  


Prof. Dr. Steffen Dietzsch lehrte Philosophie an der Universität Leipzig, der Fernuniversität Hagen sowie der Humboldt-Universität Berlin und war Fellow am Kolleg Friedrich Nietzsche zu Weimar. 2010 organisierte er die Ausstellung „Kant der Europäer“ im Museum Stadt Königsberg in Duisburg. Er veröffentlichte zahlreiche Schriften, darunter mehrere zu Kant und seiner Zeit: „Der Streit der Fakultäten. Von Kant lernen“ (1992), „Fort Denken mit Kant“ (1996), „Immanuel Kant. Eine Biographie“ (2003), „Kant der Europäer. Europäer über Kant“ (2010). Zuletzt erschien aus seiner Feder: „Denkfreiheit. Über Deutsche und von Deutschem“ (2016). Geboren wurde der Philosophiehistoriker 1943 in Chemnitz.