© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/24 / 19. April 2024

Nicht der Herde folgen
Selbstdenken: Kants Ideen helfen uns gegen die massenmediale Unmündigkeit
Till Kinzel

Wenn 300 Jahre nach dem Geburtstag eines Philosophen noch lebhaft über ihn und sein Werk diskutiert wird, ist dies keine Selbstverständlichkeit. Immanuel Kant aus dem deutschen Osten, zu dem damals Königsberg gehörte, ist so ein Denker. An ihm – oder an den zahllosen Deutungen, die sich an ihn geheftet haben – scheiden sich die Geister. Aber weshalb? Was ist es an Kant und seinem Denken, das ebenso fasziniert wie irritiert? 

Schon früh traf Kant die bewußte Entscheidung, als Denker nicht der Herde zu folgen. Vielmehr mußten die Auffassungen auch berühmter Autoren wie Leibniz oder Newton auf den Prüfstand der Kritik gestellt werden. Nicht Autorität, sondern strenge Logik sollte den Ausschlag geben. Das Interesse an der Wahrheit sollte überall leitend sein. Daraus folgte für Kant zum Beispiel eine gründliche Prüfung der klassischen Gottesbeweise, die er allesamt schließlich verwarf. Und wenn Kant gleichwohl an der Dreiheit von „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit (der Seele)“ als unentbehrlichen Postulaten der Moralität festhielt, so geben heutige Kantianer darauf nur noch wenig – weder Gott noch Unsterblichkeit spielen hier noch eine nennenswerte Rolle.

Für Kant kam es darauf an, mittels des kalten Verstandes die Prinzipien zu ermitteln, die jeder menschlichen Erkenntnisbemühung zugrunde liegen. Einerseits habe der Mensch das Bedürfnis, etwas Absolutes und Unendliches als einen Urgrund zu denken. Andererseits aber, so das Resultat der Spekulation Kants, ist dieses Absolute für den Menschen nicht erkennbar. Indem aber die Vernunft sich über ihre eigenen Grenzen klar würde, schüfe sie auch Platz für den Glauben. 

Wie manche anderen Philosophen glaubte Kant, er könne mit seinem philosophischen System einer „Kritik der reinen Vernunft“ die ewigen Streitereien in der Philosophie ein für allemal beenden. Die Vernunft auf dem Richterstuhl würde nun in die Lage versetzt, in der Philosophie endlich Frieden zu stiften. Allein diese Hoffnung trog ebenso wie manche andere auch. Denn nicht nur folgten auf Kants System in rascher Folge allerlei Systeme wie die von Fichte, Schelling und Hegel. Sondern es zeigte sich auch, daß Kants Hoffnung, die Menschheit werde sich als solche zum Besseren entwickeln, eine geschichts- und moralphilosophische Illusion war. 

So jedenfalls die Einsicht Arthur Schopenhauers, der sich ansonsten als geistiger Nachfolger Kants verstand. Und während spätere Denker – die Neukantianer – versuchten, Kant erneut zum Zentrum der Philosophie zu machen, kam es immer wieder zu scharfer Kritik. So berichtet Golo Mann von einem Heidelberger Vortrag des Wissenschaftstheoretikers Otto Neurath, in dem dieser den Studenten zurief, sie sollten weder Kant noch Schopenhauer lesen, sondern lieber Wissenschaft treiben! Da wendete sich das kritische Denken gegen seinen Urheber – oder vielleicht doch nur gegen seine späteren Interpreten? 

Kant steht mit seinem Namen wie kein zweiter Philosoph für das Projekt der Aufklärung. Dieses bedeutete zu seiner Zeit die Infragestellung von Autorität und Tradition, zugleich aber auch die Ablehnung jeder Schwärmerei. Die grundlegende Maxime der Aufklärung fordert, „jederzeit selbst zu denken“. Das aber ist leichter gesagt als getan: Auch Selbstdenken kann, wenn es uninformiert ist und die Logik mißachtet, in die Irre gehen. Vormundschaftliches Denken verdirbt den freien Vernunftgebrauch.

Aufklärung muß deshalb heute weitergedacht werden, indem wir beispielsweise an Helmut Schelsky anknüpfen. Dieser erinnerte vor gut 50 Jahren in „Die Arbeit tun die anderen“ an Kants Betonung der geistigen Mündigkeit gegen die Bevormundung des Einzelnen durch Staat und Kirche. Schelsky machte jedoch – und das bleibt aktuell – auf die Möglichkeit aufmerksam, daß der Begriff der „Mündigkeit“ zum Herrschaftsvorwand werden könnte – und zwar von seiten derjenigen, die definieren, was „Mündigkeit“ ist und in deren Namen „vormundschaftlich reden“. Politiker, Journalisten und Intellektuelle gehören zu den entscheidenden Sinnproduzenten unserer Gesellschaft. Daher, so Schelsky, bedürfe es einer neuen Bestimmung von Aufklärung: Diese müsse immer wieder „die Herrschafts-Entmachtung der sinn-produzierenden Klasse“ sein. Indem Schelsky diesen wohl von Johann Georg Hamann inspirierten Gedanken entwickelt, geht er über Kant hinaus – und er schließt sich jenem subtilen Verständnis einer Aufklärung an, die bereit ist, sich über sich selbst aufzuklären. 

Ein unmittelbares „Zurück zu Kant“ kann es deshalb ebensowenig geben wie ein Zurück zum vorkritischen Denken. Aber einige Impulse sind nach wie vor wichtig, um sich im Denken über die Welt zu orientieren. Klarheit und Logik werden heute allzu oft verachtet und ignoriert – und gerade im Bereich von Politik und Kultur sind ideologisch dubiose Schwärmer sowie Dunkelmänner und -frauen damit beschäftigt, Aufklärung möglichst zu unterbinden.

Man kann hier von der Notwendigkeit einer „Gegenaufklärung“ sprechen, welche gegen die Versuchung kämpft, die eigene angebliche Aufgeklärtheit in Vormundschaft für andere zu verwandeln. Kants Zeitgenosse Friedrich Bouterwek faßte dessen Verdienst so zusammen: Er habe wenigstens in Deutschland für lange Zeit das „Reich der intellektuellen Behaglichkeit“ zerstört. 

Heute käme es darauf an, eine neue intellektuelle Dürftigkeit aufs Korn zu nehmen, in der man sich behaglich eingerichtet hat. Da interessiert oft nur noch, ob Kant Rassist war oder seine Geschlechtertheorie auf dem aktuellen Stand ist. Der Tübinger Philosoph Otfried Höffe hält Kants teils fragwürdige Auffassungen zu diesen Themen für „nicht wesentlich“. Sie betreffen nicht den Kern dessen, warum Kant weiterhin studiert werden wird – nämlich nicht als wohlfeiles Beispiel dafür, daß auch bei großen Denkern Zeitbedingtes und Vorurteilsbehaftetes zu finden ist, sondern als „Ursprung einer unabsehbaren, besseren Aneignung“ (Karl Jaspers). Diese kann Kants Denken vor dem Veralten bewahren. Dazu braucht es ein Wagnis, das immer scheitern kann: das Selbstdenken.