© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/24 / 19. April 2024

Wenn die Visiere fallen
Iran gegen Israel: Der Schattenkrieg läuft seit Jahren. Der direkte Schlag stellt einen neuen Höhepunkt dar
Sandro Serafin

Es begann nicht mit Irans massivem Angriff auf Israel in der Nacht auf den 14. April. Es begann aber auch nicht mit dem israelischen Luftschlag auf ein Nebengebäude der iranischen Botschaft in Damaskus zwei Wochen zuvor, bei dem zwei iranische Generäle getötet wurden. Was wir am Wochenende im Nahen Osten gesehen haben, war nur eine neue Stufe in einem Krieg, der schon seit Jahren anhält.

Wobei das Wort „nur“ mißverständlich ist, denn Irans Attacke auf Israel war noch nie dagewesen. Erstmals überhaupt beschoß das Mullah-Regime den jüdischen Staat direkt von iranischem Territorium. Drohungen Washingtons und Jerusalems konnten es nicht von dem Vergeltungsschlag abhalten. Beide Staaten werden sich Gedanken machen müssen, wie es um ihre Abschreckungsfähigkeit steht.

Für Israelis hatte diese Nacht surreale bis apokalyptische Züge: Am Abend wurde zunächst bekannt, daß der Iran Drohnen in Richtung Israel gestartet habe und sie in mehreren Stunden eintreffen würden. Drei Stunden warteten die Israelis angespannt, bis die Luftschutzsirenen ertönten. Teheran flankierte den Drohnenangriff schließlich mit Marschflugkörpern und ballistischen Raketen – insgesamt mehr als dreihundert Geschosse, die fast alle abgefangen wurden und kaum Schaden anrichteten. Nach zwanzig Minuten war alles vorbei: Der erste Angriff eines anderen Staates auf Israel, seit der Irak unter Saddam Hussein 1991 seine Scud-Raketen fliegen ließ.

Und dennoch ist die Konfrontation nicht neu. Israel und der Iran liefern sich seit Jahren das, was Analysten einen „Schattenkrieg“ nennen und in Israel auch als „Kampagne zwischen den Kriegen“ bekannt ist. Das Mullah-Regime, das die Vernichtung des jüdischen Staates anstrebt, hat sich als Regionalmacht bis weit an die israelischen Grenzen vorgeschoben: Im Nachbarland Syrien hat die ideologische Elitetruppe des iranischen Militärs, die Revolutionsgarden, freie Hand. Schon 2018 etwa drang von dort eine iranische Drohne in den israelischen Luftraum ein. 

Vor allem aber hat Teheran ein weit verzweigtes Netzwerk an islamistischen Stellvertretern aufgebaut. Sie agieren in vielen Staaten des Nahen Ostens und sitzen im Libanon und in Syrien sowie dem Gazastreifen und dem Westjordanland unmittelbar an den israelischen Grenzen. Der Hamas-Überfall vom 7. Oktober war zwar anscheinend nicht durch Tehe­ran angeordnet, aber durch langjährige Unterstützung der Mullahs mit ermöglicht worden. Die Hisbollah wiederum, eine direkte Gründung des Iran, schießt seit Monaten Raketen auf Nordisrael und hat damit Zehntausende Israelis zu Flüchtlingen im eigenen Land gemacht.

Israel begegnet dem iranischen Vordringen seinerseits seit Jahren mit einer kontinuierlichen, aber unterschwelligen Militärkampagne. So waren israelische Luftangriffe in Syrien schon vor dem 7. Oktober Routine. Sie dienen vor allem dazu, iranische Waffenverschiebungen an die Hisbollah auszubremsen. Immer wieder gab es auch Meldungen über mysteriöse Explosionen etwa in Atomanlagen im Iran selbst. Dieser anhaltende Schattenkrieg rückte mit dem offenen iranischen Angriff nun bloß aus dem Dunklen heraus ins grelle Licht. 

Die Frage, die sich jetzt stellt: Bleibt der Fokus auf dieser direkten Konfrontation oder verlagert er sich wieder zurück auf die lokale Ebene des Stellvertreterkriegs, konkret den Gazastreifen und den Südlibanon? Abhängen wird das im wesentlichen von der israelischen Reaktion, die unzweifelhaft folgen wird. Jerusalem hat verschiedene Optionen: Es könnte die Auseinandersetzung mit Teheran suchen, zum Beispiel das weit fortgeschrittene Nuklearprogramm des Iran militärisch angreifen – etwas, das seit Jahren in der Diskussion ist. Es könnte sich aber auch darauf beschränken, die eigene Abschreckung wiederherzustellen, vielleicht durch Angriffe auf einzelne Ziele im Iran selbst, vor allem aber auf Ziele in Syrien oder dem Libanon. Die harmloseste Option wäre ein umfassender Cyberangriff auf den Iran.

Vieles spricht dafür, daß die israelische Reaktion am Ende eher zurückhaltend ausfällt. Nicht nur weil der iranische Angriff auch dank langer Vorwarnzeit ohne größere Schäden über die Bühne ging, sondern vor allem weil sich die rein militärische Frage komplex mit politischen Überlegungen verschränkt. Abgesehen davon, daß Jerusalem bereits einen Krieg im Gazastreifen und einen Kleinkrieg mit der Hisbollah zu bewältigen hat, bauen vor allem die westlichen Verbündeten und Staaten der arabischen Welt massiv Druck auf, um die Lage zu deeskalieren. Dabei können sie ein gewisses Verhandlungsgewicht in die Waagschale werfen. Denn sowohl die USA als auch Frankreich und Großbritannien sowie das Nachbarland Jordanien beteiligten sich mit eigenen Flugzeugen und Schiffen an der erfolgreichen Abwehr des iranischen Angriffs. Sie werden Jerusalem daran zu erinnern wissen.

Aus israelischer Sicht ist das allerdings Drohung und Chance. Irans Attacke hat nicht nur die Leistungsfähigkeit der Luftverteidigung unter Beweis gestellt, sondern dem jüdischen Staat noch einen viel größeren, strategischen Erfolg eingebracht: Seit Monaten war die internationale Kritik an der israelischen Kriegsführung im Gazastreifen immer lauter, die Isolation Jerusalems immer größer geworden. In den USA forderte selbst Nancy Pelosi, führendes Gesicht der Demokraten, kürzlich eine Aussetzung von Waffenlieferungen an Israel. Nun solidarisieren sich wieder alle westlichen – und unter der Hand auch viele arabische – Staaten mit Israel wie einst am 7. Oktober.

Das verschafft Jerusalem für den Moment internationale Entlastung. Vor allem aber lenkt es den Fokus neu auf den Iran, etwas, woran Premierminister Benjamin Netanjahu seit Jahren arbeitet. Dementsprechend wird er nun versuchen, den Augenblick zu nutzen, um eine neue westlich-arabisch-israelische Allianz gegen den Iran zu schmieden mit der lukrativen Aussicht, so auch die Zusammenarbeit mit der arabischen Welt weiter zu vertiefen. Ein allzu heftiger Gegenschlag im Iran könnte dieses Vorhaben gefährden.

Am Rande fällt auf, der Vorfall vom Wochenende hat nicht nur die Karten in Nahost neu gemischt, sondern auch einmal mehr die strategische Irrelevanz der Bundesrepublik vor Augen geführt. Während sich Paris und London an der Abwehr des Angriffs beteiligten und so nun auf den weiteren Verlauf der Ereignisse größeren Einfluß nehmen können, stand Berlin daneben und schaute zu. Fast jedenfalls: Nach Auskunft des Verteidigungsministeriums half die Luftwaffe immerhin, zwei französische Jets aufzutanken. Deutschland als der kleine Gehilfe Europas.