Im Sommer 1945 äußerte US-Chefankläger Robert H. Jackson große Sorgen über den möglichen Verlauf der geplanten Nürnberger Prozesse. „Die Deutschen werden sicherlich unseren europäischen Verbündeten vorwerfen, daß sie eine Politik verfolgt haben, die sie zum Krieg gezwungen hat. Ich sage das, weil die erbeuteten Dokumente des Auswärtigen Amtes, die ich geprüft habe, alle auf die Behauptung hinauslaufen: ‘Wir haben keinen Ausweg, wir müssen kämpfen. Wir sind eingekesselt und werden erwürgt’.“
In den zwei Jahren danach hatte es sich jedoch erwiesen, daß die Deutschen zu nichts dergleichen imstande waren. Unter dem Eindruck der Niederlage und angesichts der Heterogenität der bunt zusammengewürfelten Gruppe der Angeklagten gab es keine offensiven Verteidigungsversuche. Vielmehr hatte die alliierte Strategie gegriffen, jeden Deutschen zur Verantwortung für das Gesamtgeschehen zu ziehen und zugleich die eigene Rolle vor dem Kriegsausbruch völlig auszublenden.
Als man daher Ende 1947 daranging, in dem inzwischen elften Nürnberger Prozeß mit dem früheren Staatssekretär Ernst von Weizsäcker den höchsten noch lebenden Repräsentanten des Auswärtigen Amts der Kriegszeit im Rahmen einer Sammelanklage verschiedener Ministerien auf die Anklagebank zu setzen, wurden keine größeren Schwierigkeiten erwartet. Die alliierte Verantwortung für Ausbruch und Verlauf des Krieges würde auch gegen „Weizsäcker et al.“ nicht zur Sprache kommen.
So geschah es denn, obwohl in den vorausgegangenen Prozessen die Verteidiger mehr Erfahrung mit den eigens zur Aburteilung von Deutschen entworfenen Regularien der früheren Kriegsgegner hatten sammeln können und daher effektivere Verteidigung möglich war. Der „Wilhelmstraßen-Prozeß“, wie er nach dem früheren Standort des deutschen Außenministeriums benannt wurde, geriet zum längsten der Nürnberger Prozesse.
Die Zusammensetzung der Angeklagten fiel wie gewohnt bunt aus. Wegen eines Befehls aus Washington mußten sechs geplante Prozesse in einem zusammengelegt werden, was diesen Umstand noch verschärfte. Die USA wollten die Prozeßserie jetzt endlich hinter sich haben, da sie ihren politischen Zweck weitgehend erfüllt hatte. Schließlich drehte sich die Weltgeschichte weiter, die Blockkonfrontation zeichnete sich ab, in der die drei Westzonen bzw. der sich abzeichnende westdeutsche Staat als Frontstaat benötigt wurde. Auch die deutsche Öffentlichkeit war zu dieser Zeit von den Methoden der alliierten Rechtsfindung eher abgestoßen. Unter den einundzwanzig Angeklagten befanden sich neben Ernst von Weizsäcker der SS-General Gottlob Berger, der frühere Landwirtschaftsminister Walther Darré sowie der Chef der Reichskanzlei Hans-Heinrich Lammers. Im Volksmund erhielt diese Zufallsmischung den Spitznamen „Omnibusprozeß“. Vor fünfundsiebzig Jahren wurden im April 1949 die Urteile gesprochen, meist langjährige Haftstrafen. Ein Richter gab ein abweichendes Votum ab, da ihm die Vorwürfe zu konstruiert schienen. Robert Jacksons Sorgen von 1945 erwiesen sich jedoch insgesamt als unnötig.