© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/24 / 12. April 2024

Knirsch im Willy-Brandt-Haus
Putins Krieg entzweit die Sozialdemokratie / Geschichtspolitik im Zeichen des Krieges
Herbert Ammon

Geschichtsschreibung ist weder wertfrei noch gänzlich zweckfrei, schon gar nicht, wenn sie darauf zielt, die politische Gegenwart zu erhellen. Folglich ist Historie von Geschichtspolitik oft schwer zu trennen. Die Rede ist von Putin und dem Krieg in der Ukraine. Putin ist ohne Frage ein im KGB sozialisierter, ob seiner brutalen Praktiken notorischer Machtpolitiker. Über seine Motive besteht jedoch – zur Spekulation einladend – nur relative Klarheit. Bereits 2005 beklagte Putin, von Boris Jelzin 1999 ins Präsidentenamt gehievt, den Zusammenbruch der Sowjetunion als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Nach vorherrschender Meinung zielt er mit allen Mitteln auf die Wiederherstellung des alten russischen Imperiums. Nichts anderes bezweckte er demnach mit seinem am 24. Februar 2022 eröffneten – vor Kiew gescheiterten – Großangriff auf die Ukraine.

Gegenüber diesem Szenario vertritt eine Minderheit von Historikern und Politikern eine andere Position. Wie Putin erstmals mit seiner spektakulären Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 kundtat, als er die USA wegen der Ostausdehnung der Nato des Vertrauensbruchs und der monopolaren Hegemonie attackierte, gehe es der gekränkten Großmacht Rußland um die Anerkennung als Hegemonialmacht mit gesicherter Einflußsphäre. Aus dieser Sicht der Dinge sei ein Interessenausgleich mit Putin – und damit die Aussicht auf ein Ende des Krieges in der Ukraine – denkbar und möglich.

Die Ostpolitik von Egon Bahr und Willy Brandt wird in Frage gestellt

Die Einschätzung von Putins Motiven ist alles andere als eine akademische Streitfrage, sondern von hoher politischer Brisanz. Mit Empörung reagierte die mediale Öffentlichkeit auf eine von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer angeführte Kampagne für eine deutsche Friedensinitiative. Und dieser Tage hat die Frage, wie dem Aggressor Putin zu begegnen sei, zum Eklat in der SPD geführt. Während der Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich als „linker“ Sozialdemokrat für ein „Einfrieren des Krieges“ plädiert, reagierte Michael Roth, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, mit der Ankündigung, sich wegen derartiger, an München und „Appeasement“ erinnernder Stimmung in der SPD aus der Politik zurückzuziehen. Vor diesem Hintergrund wird von Verteidigern der angeblich auf dem Weg zur Demokratie befindlichen Ukraine und Kritikern der auf „illusionäre Verhandlungen“ ausgerichteten Position die politische Weisheit und Moral der mit den Namen Bahr-Brandt verknüpften „Ostpolitik“ in Frage gestellt. Sie sei mitverantwortlich für die bis heute fortwirkenden Fehleinschätzungen des Charakters russischer Machtpolitik. Während Willy Brandt von Kritik verschont bleibt, zielen die Attacken vor allem auf den „Architekten der Ostverträge“ Egon Bahr (gestorben 2015), dem man vorwirft, in devoter Haltung gegenüber Moskau die Sache der Freiheit und der Menschenrechte mißachtet zu haben.

Die Kontoverse über den „Architekten der Ostpolitik“ eröffnete das langjährige SPD-Mitglied Heinrich August Winkler mit seinem Aufsatz „Der Tabubruch von Tutzing“ (FAZ vom 10. Juli 2023). Winkler unterteilte die Ostpolitik in zwei Phasen: Positiv zu würdigen sei die Vertragspolitik der sozialliberalen Koalition zur Überwindung des in Hitlers Krieg begründeten Spannungszustands in der Mitte Europas. Dazu gehörte insbesondere die in den Verträgen von Moskau und Warschau (1970) festgeschriebene Anerkennung der polnischen Westgrenze an Oder und Neiße als Voraussetzung einer künftigen europäischen Friedensordnung. In der zweiten Phase indes habe Bahr – als deutscher Nationalist in fataler Geschichtstradition – die Freiheitsbestrebungen in Polen und im östlichen Europa dem deutsch-russischen Zusammenspiel geopfert. 

Der Anklage Winklers sekundierte der FDP-Politiker Gerhart Baum, von 1972 bis 1978 Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium, danach bis 1982 Innenminister, in einem Leserbrief (FAZ vom 17. Juli 2023), in dem er die „Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen von Egon Bahr in den verschiedenen Phasen der Ostpolitik“ anprangerte. Baums Polemik unterscheidet sich von derjenigen Winklers in der ironisch anmutenden Pointe, Bahr habe in seiner „Ostpolitik“ bereits bei den Verhandlungen in Moskau 1970, sodann auf der KSZE-Konferenz in Helsinki 1975 die deutsche Einheit preisgegeben.

Vor seinem Tode provozierte Egon Bahr eine Klasse von Gymnasiasten mit seinem realpolitischen Politikverständnis. Er belehrte sie darüber, daß es in der Politik stets um Interessen von Staaten gehe, nicht um Demokratie und Menschenrechte, „egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt. Merken Sie sich das.“ Für die grün-links eingefärbte – auf „feministische Außenpolitik“ (Baerbock) eingestimmte – politisch-mediale Klasse der Bundesrepublik sind derlei Worte unverdaulich. 

Die im Hinblick auf den Ukraine-Krieg politisch bedeutsame Abwertung der Ostpolitik hat Verteidiger Bahrs auf den Plan gerufen. Für den Willy-Brandt-Kreis wenden sich Heidemarie Wieczorek-Zeul, Peter Brandt und der Physiker und Friedensforscher Götz Neuneck gegen die „Demontage von Egon Bahr“. Warum sie „diese emotionale Mobilmachung ablehnen“, begründen sie in einem langen Gastbeitrag, den das Online-Magazin Telepolis (vom 1. April 2024) redaktionell gekürzt übernommen hat. Sie erinnern daran, daß Bahrs historische Leistung anläßlich seines 100. Geburtstages in einem Gedenkband parteiübergreifend von Persönlichkeiten wie Henry Kissinger – der in der Anfangsphase der Ostpolitik noch mit Skepsis begegnete –, von Edmund Stoiber, Antje Vollmer und ausländischen Politikern und Diplomaten gewürdigt wurde. 

Bahr hat mehrfach die Nato-Osterweiterung problematisiert

Indem die Autoren Bahrs heute unzeitgemäß wirkenden Patriotismus betonen, verweisen sie auf die Widersprüche in Winklers und Baums Polemiken – für den Historiker Winkler zu „deutsch-national“, für den Liberalen Baum nicht patriotisch genug. Sie räumen mit Konzessionen an die zeitgenössische Diktion ein, „daß Bahrs Denken nicht auf zivilgesellschaftliches Wirken, sondern auf die Staatenpolitik konzentriert war ...“ Er habe „später auch die Defizite seiner Politik gesehen“. Für die Analyse der Gegenwart sei gleichwohl entscheidend, „daß bis heute Fragen von Allianzen, militärischer Aufrüstung, Bedrohung und Krieg zur Staatenpolitik gehören“. Die von Winkler und Baum bevorzugte Betonung „moralischer und zivilgesellschaftlicher Dimensionen liefert keine Beiträge einer vertiefenden Analyse“. Wie andere „Elder Statesmen“ habe Bahr vor einem neuen Ost-West-Konflikt gewarnt, die in mehreren Schriften erfolgte Nato-Osterweiterung problematisiert und lange auf die Defizite der europäischen Sicherheitsarchitektur hingewiesen.

Gibt es irgendwelche Chancen für eine Beendigung des mörderischen Konflikts im östlichen Europa durch Verhandlungen mit dem Aggressor Putin? Die Autoren geben darauf keine Antwort. Immerhin eröffnet ihr Fazit den Weg zur Erkenntnis der historischen Umstände, die Putins Krieg in der Ukraine herbeigeführt haben: Angesichts des Zusammenbruchs des europäischen Sicherheitssystems“ bedürfe es der „kritischen Aufarbeitung des völkerrechtswidrigen Krieges, aber auch der Fehler des Westens, seiner Irrungen und Fehleinschätzungen“. 


Foto: Bundeskanzler Willy Brandt (M.), der sowjetische Generalsekretär Leonid Breschnew (l.) und Egon Bahr (r.) beim Staatsbesuch, Krim 1971: Die mit den Namen Bahr-Brandt verknüpfte „Ostpolitik“ sei mitverantwortlich für die bis heute fortwirkenden Fehleinschätzungen des Charakters russischer Machtpolitik