Am 1. März 1933 klingelte das Telefon in seinem Häuschen in Berlin-Zehlendorf. Am Apparat war ein Beamter aus dem Reichspräsidentenpalais. Was er zu berichten wußte, war alarmierend: Seine Verhaftung durch die Nationalsozialisten stehe unmittelbar bevor. Er müsse unverzüglich Deutschland verlassen. In aller Eile packte er seine Sachen, reservierte unter falschem Namen einen Schlafwagenplatz für seine Frau und machte sich mit einem Freund, der den Wagen chauffierte, auf den Weg in die Schweiz. Als er in Friedrichshafen am Bodensee ankam, stand eine Menschentraube am Fährhafen. Die Überfahrt ans rettende Ufer war ausgebucht. In Panik und Verzweiflung setzte er buchstäblich alles auf eine Karte. Er zückte seinen Dienstausweis, der Grenzbeamte salutierte und besorgte ihm umgehend einen Platz auf dem Schiff. Dann aber eilte der Beamte schnurstracks zum Telefon und gab Meldung nach oben, wer sich da davongemacht hatte.
Diese dramatische Episode, einen Tag vor der Reichstagswahl am 5. März 1933, bescherte den Nationalsozialisten ihre Wahlbombe. Der Spitzenkandidat der stärksten Oppositionspartei hatte sich ins Ausland abgesetzt. Den ganzen Wahlsonntag über hämmerte Goebbels dies den Leuten über die Rundfunksender ein: der „Rote Zar“, der „Eiserne Otto“, der „ostpreußische Eiszapfen“ war einfach desertiert. Er hatte seine Partei und deren Wähler schmählich im Stich gelassen. Es war, als ob der kommandierende General kurz vor der Entscheidungsschlacht seine Truppen einfach sich selbst überlassen hatte.
Das war das abrupte und unrühmliche Ende einer der steilsten Karrieren in der Weimarer Republik. Er war einer ihrer mächtigsten Repräsentanten gewesen, ein Fels in der Brandung, ein Bollwerk der Demokratie, ein Pragmatiker und Realpolitiker. Fast 13 Jahre lang, von 1920 bis 1932, hatte er mit zwei kurzen Unterbrechungen drei Fünftel der Deutschen und zwei Drittel des Reiches regiert. In der Reichskanzlei hatten sich in derselben Zeit 17 Regierungschefs die Klinke in die Hand gegeben. Er aber war immer geblieben, wo er war. Sein Büroschild im Prachtbau in der Wilhelmstraße 63, gleich schräg gegenüber der Reichskanzlei, mußte so gut wie nie ausgewechselt werden.
Während dieser Zeit war er nicht müde geworden, mit massiven Standpauken den Genossen Pragmatismus und Staatsverantwortung einzuimpfen. Mit dem Kurs seiner Partei, sich in ideologischen Schützengräben zu verschanzen, ihr Fähnchen in den Wind der wankelmütigen Stimmungen zu hängen, damit die Republik ihrem Schicksal zu überlassen und denjenigen, die ihr den Hals umdrehen wollten, stand er auf Kriegsfuß. Ihm leuchtete nicht ein, weshalb seine Partei, immerhin lange die stärkste der Republik, nur in 8 von 16 parlamentarisch gebildeten Reichskabinetten überhaupt vertreten war; und warum 5 dieser 8 stürzten, weil die eigene Reichstagsfraktion wegen nichtiger Anlässe ihre Minister zum Rücktritt zwang.
Er war der Leuchtturm, der vormachte, wie man eine Abwehrfront der Demokraten gegen die Radikalen schmiedete: mit seiner hünenhaften Statur von 1,90 Metern Größe, mit seiner aufrüttelnden, hart und metallisch klingenden Stimme, mit seinem Credo, daß es „Wahnsinn“ sei, wenn sich Demokraten „gegenseitig über politische Doktrinen die Schädel einschlagen“, mit seinem guten Draht zu Hindenburg, seinem Jagdfreund in der Schorfheide, und mit seinem autokratischen, zupackenden Führungsstil. Dabei war der gelernte Steindrucker, der 1872 in eine kinderreiche Proletarierfamilie in ein finsteres Hinterhaus in der Königsberger Altstadt hineingeboren wurde, früher das gewesen, was man heute einen „Juso“ nennen würde: ein Rebell, der sich mit den Parteioberen und den Landjunkern zankte, der wegen Majestätsbeleidigung und unter dem Verdacht des Hochverrats gegen den Zaren im Gefängnis saß.
Nach der Novemberrevolution aber wurde er zum Vorzeigepolitiker und zum Aushängeschild seiner Partei. Denn er hatte das, was seinen Genossen fehlte: einen eisernen Willen, ein Organisationstalent, eine ausgeprägte Ordnungsliebe und eine nüchterne Sachlichkeit, der theoretische Scharmützel ein Greuel waren. Vor allem aber verfügte er über die Einsicht, fernab jeder Ideologie, sich den Sachzwängen der Politik zu beugen und über den eigenen Schatten zu springen. Das Bahnwärterkind aus der ostpreußischen Mietskaserne wurde zum Minister und Regierungschef, nicht etwa zum „delegierten Hausknecht“ der Partei, wie Rosa Luxemburg höhnte.
Mit seiner Maxime, die Verantwortung für den Staat über die Loyalität zur Partei zu stellen, machte er sich allerdings weder Freunde, noch gewann er Einfluß in seiner Partei. Wenn dies anders gewesen wäre, hätte er zum Retter der Republik werden können. Einmal, bei der Wahl zum Reichspräsidenten 1925, fuhr er als Kandidat weit mehr Stimmen ein als seine Partei Mandate im Reichstag besaß. Aber in der Stichwahl gegen Hindenburg ließ man ihn gar nicht mehr antreten.
Ende 1932 ging es dann schon um das Schicksal von Republik und Partei. Drei Wochen vor der „Machtergreifung“ hatte Braun begriffen, daß man nur noch die Wahl habe zwischen dem Übel Schleicher und der Katastrophe Hitler. „Wir schieben die Wahlen bis weit in das Frühjahr hinaus und führen einen einheitlichen nachdrücklichen Kampf gegen die Machtansprüche der Nationalsozialisten“, so lautete sein Angebot an den Präsidialkanzler. „Diese haben bei der Novemberwahl bereits zwei Millionen Stimmen verloren, haben ihren Höhepunkt überschritten und befinden sich im Rückgange. Wir brauchen nur noch nachzustoßen, um ihnen bei Frühjahrswahlen eine vernichtende Niederlage zu bereiten.“ Er erbot sich, all seinen Einfluß für diese Abwehrfront gegen Hitler in seiner Partei geltend zu machen. Es war vergeblich. Der Parteivorstand pfiff ihn zurück und war nicht willens, dem „Teufel“ Schleicher auch nur „den kleinen Finger zu reichen“.
Und selbst zwölf Jahre später, als die Katastrophe vorbei war, zeigten ihm die Genossen um Kurt Schumacher die kalte Schulter und wollten von einem politischen Comeback nichts wissen. Als er 1955 vollkommen verarmt starb und seine Asche auf dem Lago Maggiore verstreut wurde, nahm niemand mehr Notiz von ihm. Erst vor ein paar Jahren wurde er rehabilitiert. In Potsdam wurde 2015 der Platz vor dem Stadtschloß nach ihm benannt. Dort erinnert heute eine Bronzebüste an ihn.
Prof. Dr. Rainer F. Schmidt lehrte Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Würzburg.