© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/24 / 12. April 2024

Eine Republik im Wandel
Kulturkampf: Das Alte stirbt, doch das Neue kann noch nicht zur Welt kommen. Es beginnt das bundesdeutsche Interregnum
Konstantin Fechter

Die Fanale mehren sich: An der britischen University of Winchester wird nach anhaltenden Protesten eine 2021 errichtete lebensgroße Bronzestatue von Greta Thunberg umgesetzt. Die prominente Plazierung am Haupteingang habe laut Rektorat zu „antisozialem Verhalten“ gegenüber der Skulptur geführt und bedinge die Verlegung an einen abgelegenen Innenhof des Universitätsgeländes. Die oktroyierte Monumentalisierung der Klimabewegung ist gescheitert; folgt man der Logik geschichtlicher Prozesse, steht nun die Historisierung der Protestmärsche unmittelbar bevor. Wie bei allen Endzeitbewegungen wird nach dem Abklingen der schaurigen Faszination des Augenblicks hauptsächlich Verwunderung bleiben über den Kinderkreuzzug einer metaphysisch verwahrlosten „Jugend ohne Gott“, die Ödön von Horvath schon vor einhundert Jahren als besonders anfällig für ideologisch überladene Sinnversprechen beschrieb.     

Auch in der Bundesrepublik vollzieht sich der Wandel der weltanschaulichen Moden immer mehr im Zeitraffer. Galt noch bis in die 1980er Jahre ein spätmodernes Vertrauen in die Technisierung als Grundlage einer über ökonomische Austauschbeziehungen definierten Gesellschaftsordnung, verfestigte sich nach Ende des Kalten Krieges eine Ideologie der Entflechtung. Das neoliberale Globalisierungsdogma verlor seine Legitimität im Zuge der weltweiten Finanzkrise des Jahres 2008, welche verstärkt jenen industriekritischen Strömungen Auftrieb verlieh, die der Soziologe Ulrich Beck als Ausdruck einer „Risikogesellschaft“ summierte. Deren erhitzte Debatten sind geprägt durch die „Folgeprobleme der technisch-ökonomischen Entwicklung selbst. Der Modernisierungsprozeß wird reflexiv, sich selbst zum Thema und Problem.“  

Als Sieger im Wettstreit der Problematisierungsideologien ging die grüne Parteibewegung hervor. Mit Hilfe eines wirkmächtigen Vorfeldes zementierte sie während der vergangenen zwei Jahrzehnte eine diskursive Hegemonie, die in einem Modus des permanenten Generalalarmzustandes ihre Kritiker reflexartig als Gesellschaftsgefährder versteht und isoliert. Das Narrativ der ökotransformativen Weltneugestaltung konnte jedoch aufgrund seiner inneren Widersprüche in Form einer Gleichzeitigkeit von Verzichtsforderungen und Wachstumsverheißungen keiner dauerhaften Beanspruchung durch die Realität standhalten.

„Die Instandhaltung von Luftschlössern ist ein kostspieliges Vergnügen“, schrieb der britische Schriftsteller und Politiker Edward Bulwer-Lytton schon im 19. Jahrhundert. Der deutsche Sonderweg in Energie- und Migrationspolitik ist zu einem ohnmächtigen Irren im Labyrinth der Regulierungsverordnungen geworden. Der gegenwärtige Protest breiter Bevölkerungsschichten dient als Akt der Selbstaufklärung, der die Urheber entzauberter Mythen an den Pranger stellt. 

Das Dilemma der Wandelrepublik Deutschland liegt darin, daß die derzeit einzig realitätsverortete Lagefeststellung bei der politischen Rechten zu finden ist. Die dort geforderte Restauration rekursiver Nationalstaatlichkeit als Eingeständnis des Bedeutungsverlustes von Europa steht im scharfen Kontrast zu der grünen Stilisierung als Vorzeigeklimakontinent. Die Abwendung von ökotechnokratischer Machbarkeitshybris hin zu einer Politik der konkreten Interessen Deutschlands innerhalb der europäischen Kooperation bildet ein überzeugendes Konzept der Schadensbegrenzung zahlreicher Politikschimären. 

In den ostdeutschen Landtagswahlen Anfang September wird sich dieser Mentalitätswandel als Ausdruck der Rückbesinnung auf das Eigene erstmals an den Wahlurnen widerspiegeln und für die Bundesrepublik zur sozialen Zerreißprobe werden. Denn eine Normalisierung der Alternative für Deutschland durch Übernahme von Regierungsverantwortung kann noch für längere Zeit als ausgeschlossen gelten. 

Die publizistische Massenhysterie rund um das angebliche Potsdamer Geheimtreffen zeigt (JF 11/24), daß die Arbeiten am Feindbild AfD abgeschlossen sind und dieses nun unwidersprochen als restauriertes Historiengemälde der nationalsozialistischen Machtergreifung präsentiert werden kann. Trotz rechtsstaatlicher Bedenken wird ein Verbotsantrag – jedenfalls die unverhohlene Drohung damit – zur weiteren Bekämpfung der Partei genutzt werden. Vor dieser Drohkulisse ist es ein leichtes, die finanzielle Parteienförderung zu beschneiden, ihre Repräsentanten im parlamentarischen Betrieb fortlaufend zu diskriminieren und Sympathisanten auf beruflicher und privater Ebene zu schikanieren. Die Stigmatisierung der AfD spiegelt die systemimmanente Zwangslage einer Gesellschaftsverfassung wider, welche spätestens seit der Wiedervereinigung ihr eigenes Demokratiebekenntnis nur mit Hilfe eines antifaschistischen Abwehrkampfes gegen die vermeintlich rechte Bedrohung definieren konnte.

Was bedeutet eine AfD, die so stark ist, daß eine Allparteienfront zu ihrer Eindämmung benötigt wird, aber gleichzeitig nicht stark genug ist, um absolute Mehrheiten zu erringen? 

Durch die Halluzination eines drohenden neonazistischen Staatsstreiches wird die grüne Hegemonie künstlich am Leben erhalten und zum biblischen Katechon, dem großen Aufhalter einer als „völkisch“ verfemten kulturpolitischen Wende anwachsen. Jedoch offenbart sich längst die sozialimperiale Überdehnung des großangelegten Bürgerdisziplinierungsprojekts. Denn weite Teile der Bevölkerung folgen ihr nicht mehr aus innerer Überzeugung, sondern aus diffuser Furcht vor Veränderung des Status quo. 

Antonio Gramsci, der Theoretiker des verschärften Kulturkampfes, erfaßte diesen Zustand des verzögerten Überganges als einen Kulminationspunkt der Verunsicherung: „Die Krise besteht in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen.“ Die um sich greifende Desorganisation resultiert daraus, daß die „herrschende Klasse den Konsens verloren hat, d.h. nicht mehr führend, sondern einzig herrschend ist.“ 

Als Folge gilt es die eigene Anhängerschaft durch Klientelbeschenkung bei Laune zu halten. Insbesondere in der Publizistik des Ausnahmezustandes formieren sich Unternehmer einer Verleumdungsgewalt, deren einzige Geschäftsgrundlage aus eskalativer Einschüchterungsrhetorik besteht. Der substanzlose „Kampf gegen Rechts“ erweist sich als Autoimmunerkrankung der Republik, welche eine Besinnung auf eine deutsche Kernidentität dauerhaft unterbindet und ein neurotisiertes Gemeinwesen hinterläßt.  

Indem sich der Bundestag als eine durch die AfD belagerte Institution begreift, leitet er mit der Bildung bloßer Abwehrmehrheiten das Ende des Parlamentarismus ein. Planspiele über thüringische Notkoalitionen unter Einbeziehung von Linkspartei und Christdemokraten stellen eine sträfliche Mißachtung des Wählerwillens dar. Eine Volksversammlung vermag es, schärfste politische Widersprüche abzubilden, nicht aber eine dauerhafte Frontstellung in einem Parteienvernichtungsverfahren. Der Abgeordnete tauscht seine Position als Repräsentant des Souveräns gegen die eines Soldaten im Kampf innerer Zerrissenheit.  

Auch jenseits des politischen Betriebes unterliegen im Interregnum Spannungskonstellationen wie Corona, Ukraine-Krieg und Erderwärmung keiner diskursiven Erörterung mehr, sondern dienen als Indiziengeber bei den Verhörmethoden zum Zwecke der Freund-Feind-Erkennung. Selbst in privaten Unterhaltungen hat sich längst jene Sondierungssprache ausgeprägt, in der Begrifflichkeiten und Schlagwörter auf einer semiotischen Metaebene Zustimmung oder Ablehnung zur offiziösen Wahrnehmungsverordnung signalisieren. 

Die erzwungene Machtferne bleibt nicht ohne Auswirkung. Eine Radikalisierung von nicht unerheblichen Teilen der Gegenpolitik zeigt sich tatsächlich – wenn auch keineswegs in einer wachsenden Affinität zur Gewalt. Vielmehr breitet sich mit jedem Tag des Interregnums auch im oppositionellen Milieu die Lust an der Abkehr von einer verpflichtenden Realität aus. Je länger der Status als Fundamentalwidersprecher aufrechterhalten werden muß, desto anfälliger werden die Anhänger politischer Aufklärung für Heilsversprechen und Erlösungsphantasien zwielichtiger Politesoterik. Regierungskritik dient dabei als pauschales Gütesiegel eines alternativen Obskurantismus, der aus Gründen persönlicher Bereicherung ein sinnsuchendes Gefolge um sich schart. Indem sich die politische Klarsicht der Opposition durch eine Inflation der Verschwörungsdeutungen vernebelt, verspielt sie ihre Legitimation. 

Dabei ergibt sich gerade aus den Exzessen der Oppositionsbekämpfung eine Vorlage zur Gewinnung von politisch umkämpftem Boden. Die derzeitige Vergangenheitsbeschwörung in Form einer Projektion des verhängnisvollen Schicksalsjahrs „1933“ erzeugt durch das Ausbleiben von paramilitärischen Verbänden, Saalschlachten und politischen Morden bei vielen Bürgern ein Gefühl des Anachronismus, dessen propagandistischer Charakter nicht übersehen wird. Die normative Kraft des Faktischen erweist sich als mächtiger Verbündeter im Kampf gegen die Überspannung apokalyptischer Visionen. 

Auch die AfD darf nicht zulassen, daß ihr prekärer Zustand der Bedrängung ihre grundlegende Wahrnehmung als Partei bestimmt. Provokation, Empörung und Wutartikulation waren berechtigte Geburtshelfer einer wirkmächtigen oppositionellen Bewegung. In Zeiten allgemeiner Erregung müssen sie jedoch einer souveränen Verantwortungsrhetorik weichen, die selbstbewußt darlegt, warum ihr die Zukunftsgestaltung überlassen werden sollte.    

Im bundesrepublikanischen Interregnum beginnt ein Spiel auf Zeit. Wer in ihm überdauern will, benötigt einen kühlen Kopf und langen Atem. Die Deutschen haben sich keineswegs extremisiert, jedoch die Bedingungen, denen sie sich täglich ausgesetzt sehen. Jene politische Formation, die in Zeiten der Krisenkonvergenz am überzeugendsten eine Normalitätsverheißung vermitteln kann, wird letztlich als Garant stabiler Alltäglichkeit wahrgenommen und gewählt werden. 


Bild: Roberto Marcello Baldessari, Simultanität, Pastell auf Karton 1915: Auch im oppositionellen Milieu breitet sich die Lust an der Abkehr von einer verpflichtenden Realität aus. Je länger der Status als Fundamentalwidersprecher aufrechterhalten werden muß, desto anfälliger werden die Anhänger politischer Aufklärung für Heilsversprechen und Erlösungsphantasien zwielichtiger Politesoterik