© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/24 / 12. April 2024

Ich bin der Herr, Dein EuGH
Der Europäische Gerichtshof: Wie Luxemburg über das Schicksal von 450 Millionen EU-Bürgern entscheidet
Liz Roth

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entscheidet, und das betrifft am Ende knapp eine halbe Milliarde Menschen. Er wird als größte Institution der Zentralisierung in Europa gesehen. Was die derzeitigen 27 Richter entscheiden, gilt für alle EU-Mitgliedstaaten gleichermaßen, ungeachtet dessen, was die jeweiligen Länder in ihren eigenen Gesetzen festgelegt haben. Er steht zwischen Recht und Übergriffigkeit. So auch Mitte März, als die Richter entschieden, daß jeder Bürger eines EU-Landes seine Fingerabdrücke nehmen lassen muß, um ein Ausweisdokument ausgestellt zu bekommen. Wieso entscheidet über diese persönlichen Daten ein Gericht in Luxemburg und nicht jedes Land selbst? Das ist für den Laien oft schwer zu erfassen und zeigt auf, wie komplex und unüberschaubar das EU-Konstrukt mit seinen derzeitigen 2.302 Bediensteten in den vergangenen Jahrzehnten geworden ist. 

Ursprünglich wurde der Gerichtshof 1952 mit der Aufgabe ins Leben gerufen, über Streitigkeiten, die aus dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) entstanden waren, zu richten. Damals gab es sechs Mitglieder. Mit Deutschland, Frankreich, Italien und den Benelux-Ländern wurde die EGKS ausschließlich als Handelsbündnis angelegt. 

Mit der Erweiterung und Transformation dieses Bündnisses in die heutige Europäische Union ist es nun, über 70 Jahre später, ein Staatenverbund mit 27 Mitgliedern geworden, die Teil eines gigantischen europäischen administrativen Apparates mit weitreichenden Kompetenzen sind. Spätestens seit dem Vertrag von Lissabon, der 2009 in Kraft getreten ist, gilt eine Vorherrschaft des Europäischen Rechts. 

Der EuGH entscheidet an der nationalen Justiz vorbei

Somit ist der EuGH das anscheinend wichtigste rechtsprechende Organ auf diesem Kontinent. Er entscheidet unter anderem über die Rechtskonformität der Gesetze, die von der EU in Brüssel beschlossen werden, über die Anwendung dieser in den jeweiligen Ländern und über Dispute, die aus diesen Gesetzen entstehen. Wichtig ist dennoch, daran zu erinnern, daß die EU zu diesem Zeitpunkt weiterhin ein Staatenverbund und kein europäischer Bundesstaat ist und die nationalen Verfassungen der Mitgliedsländer ihre Gültigkeit behalten. Das führt immer wieder zu Spannungen zwischen den nationalen Verfassungsgerichten und den Richtern in Luxemburg. 

Zwar haben alle 27 Mitgliedsstaaten einen Vertreter, aber ihre Gesichter sind den meisten Bürgern nicht geläufig. Der deutsche Richter heißt Thomas von Danwitz und sitzt seit Oktober 2006 als Vertreter der Bundesrepublik auf der Richterbank. Eine Amtszeit dauert in der Regel sechs Jahre und kann nach Vorschlag des Mitgliedstaates und Abstimmung des Gerichtes erneuert werden. Erst im vergangenen Jahr, auf Empfehlung von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP), wurde von Danwitz’ vierte Amtszeit, beginnend im Oktober 2024, eingeläutet. Ein Rekord, und somit hat sich von Danwitz zum festen Bestandteil des Apparates gemausert. 

Anhand des Falls im März kann der EU-Prozeß veranschaulicht werden. Was war geschehen? Ein deutscher Staatsbürger hatte sich geweigert, seine Fingerabdrücke für die Ausstellung eines neuen Personalausweises zu hinterlegen. Die Stadt Wiesbaden wollte ihm aufgrund dessen keinen neuen Ausweis ausstellen, da das Hinterlegen der Fingerabdrücke seit 2021 laut Personalausweisgesetz Pflicht ist. Er wehrte sich dagegen, klagte vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden und wies auf sein Grundrecht auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten hin. Eigentlich wäre diese Frage endgültig ein Fall für das Verfassungsgericht in Karlsruhe.

Hier verwies das Gericht den Fall direkt nach Luxemburg, denn die Speicherung von Fingerabdrücken wurde aufgrund einer EU-Verordnung 2019 (2019/1157) in das Personalausweisgesetz integriert. Also wurde diese Regelung von Brüssel entschieden und nicht von den Bundesbürgern und ihren Vertretern in Berlin. Was sind nun die Konsequenzen des Falls? 

Laut EuGH leiste diese Regelung einen Schutz für die Bürger und sie würden sogar davon „profitieren“. Die Fingerabdrücke „verhinderten die Herstellung gefälschter Personalausweise und den Identitätsdiebstahl“ und somit „leiste die Verpflichtung zur Abgabe der Fingerabdrücke sogar einen Beitrag zum Schutz des Privatlebens der betroffenen Personen als auch im weiteren Sinne zur Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus“, befand das Gericht. Sie erkannten aber Einschränkungen der Grundrechte. Außerdem könnten „Unionsbürger sich dadurch auf zuverlässige Weise identifizieren, so daß die Verpflichtung zudem die Ausübung ihres Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt in der EU erleichtere“.

„Präzedenzfälle mit politischem Charakter“

Interessant ist allerdings, daß die Richter die Rechtsgrundlage für die Verordnung für ungültig erklärten und der EU bis Ende 2026 Zeit geben, um eine neue Verordnung auf der richtigen Rechtsgrundlage zu schaffen. Bis dahin gelte aber die aktuelle Verordnung. Also entscheiden am Ende die Richter, und diese Rechtsprechung gilt nicht nur für Deutschland, sondern für alle 27 Länder. Trotz seiner rechtsprechenden Rolle wird anhand des Urteils deutlich, wie weitreichend das Gericht der politisch Einfluß nimmt. 

Jedes Land, das sich der EU angeschlossen hat, hat sich bis zu einem gewissen Grad dem großen Ganzen unterworfen, dem europäischen Projekt. Das mag für Frieden und Stabilität gesorgt haben, aber auch zu der Abgabe von Souveränität und nationaler Autonomie an oftmals gesichtslose Bürokraten. Diese Kritik war einer der Hauptmotoren für den Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU, der 2020 umgesetzt wurde. 

Immer wieder ermahnten die Briten, angeführt von Nigel Farage, auch den EuGH, daß er durch seine Rechtsprechung „zum Gesetzesmacher wurde“ und rügten eine Kompetenzüberschreitung. In juristischen Fachkreisen und unter Rechtsgelehrten ist das Thema Kompetenzüberschreitung des EuGH seit langem viel diskutiert. Während die Medien das Thema fast nie in den Vordergrund stellen und eine strikte kritikfreie EU-Agenda verfolgen, gibt es seit Jahrzehnten eine heftige Diskussion in den Rechtswissenschaften unter der Überschrift „Schleichende Kompetenzausweitung“, da „die Urteile zu einer indirekten Gesetzgebung und die Rechtssprechung zu Präzedenzfällen mit politischem Charakter führten“, heißt es in einem Dokument des Council of Europe (Europarats). 

Obwohl Deutschland zu den führenden Nationen des europäischen Projektes gehört, gab es in den vergangenen Jahren auch Kritik von dieser Seite. Der ehemalige Verfassungsrichter Ferdinand Kirchhof kritisierte bereits 2019 die Mechanismen an. Er erklärte, daß die Richter in Luxemburg „einseitige Entscheidungen ohne Rücksicht auf gewachsene nationale Rechtsinstitute“ fällten. „Damit greifen sie in Bereiche ein, die die Mitgliedsstaaten bewußt für sich selbst von europäischen Regeln freigehalten hatten“, erklärte der Richter weiter. Er bezog sich mit seiner Kritik auf den Fall eines katholischen Chefarztes, dem nach seiner Wiederheirat von seinem Arbeitgeber, der Caritas, gekündigt worden war. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte entschieden, daß die Kündigung unwirksam sei. Die Karlsruher Richter entschieden in weiterer Instanz, das BAG habe die Bedeutung und Tragweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts nicht ausreichend berücksichtigt und müsse daher neu entscheiden. Anstatt neu zu entscheiden, sendeten die Richter den Fall nach Luxemburg, und der EuGH gab weitestgehend dem Chefarzt recht. In anderen Worten hat Luxemburg die Entscheidung von Karlsruhe aufgehoben und gleichzeitig neue, europäische Regeln für das kirchliche Arbeitsrecht in Deutschland aufgestellt. Diese hebelten das bisher in Deutschland existierende, noch auf die Weimarer Reichsverfassung zurückgehende Selbstbestimmungsrecht der Kirchen in weiten Teilen aus. 

Kirchhof klagte dieses Ping-Pong-Spiel an und forderte, daß nur die obersten Gerichte der Länder den EuGH zu Rate ziehen sollten. Das aktuelle System „begünstige die Umgehung der nachfolgenden Instanzen und tendiere zur Zersplitterung der Rechtsprechung“, so Kirchhof. Stattdessen sollten in solchen Fällen „die nationalen Verfassungsgerichte einbezogen werden“. So könne auch „verhindert werden, daß untere Gerichte von sich aus nationale Gesetze wegen eines vermeintlichen Verstoßes gegen Europarecht nicht anwenden“.

Zum Eklat zwischen Karlsruhe und Luxemburg kam es dann 2020, als das Bundesverfassungsgericht dem EuGH direkte Kompetenzüberschreitung vorwarf, als er es unterließ, den Ankauf europäischer Staatsanleihen seitens der Europäischen Zentralbank einer strengeren Kontrolle zu unterwerfen. Diese direkte Kritik von Seiten der Verfassungsrichter kam überraschend und erntete wenig Zustimmung in der intellektuellen Öffentlichkeit. Der Belgier Koen Lenaerts, Präsident des EuGH, nannte Karlsruhes Verhalten „ziemlich komisch“ und womöglich ein „Mißgeschick“. Die meisten der Kommentatoren sorgten sich, daß die Karlsruher Aussagen EU-kritischen Gerichten in Ungarn oder Polen eine Vorlage gegeben hätten, EuGH-Entscheidungen direkt zu ignorieren. Am Ende kam es zu Gesprächen zwischen Luxemburg und Karlsruhe. Der frühere Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle plädierte immer wieder dafür, daß die „Europäischen Gerichte miteinander arbeiten sollten, wie in einem Mobile, das, wenn es gut hängt, sich in voller Pracht vor dem Auge des Betrachters entfaltet“.

„Gegen die Interessen der eigenen Bevölkerung“

Auch die Schweiz, obwohl sie kein Mitglied der Europäischen Union ist, fühlt sich immer mehr durch die „fremden Richter“ in Luxemburg bestimmt. Matthias Oesch, Professor für Europarecht an der juristischen Fakultät der Universität Zürich, veröffentlichte jüngst ein Buch mit dem Titel „Der EuGH und die Schweiz“ zum Dilemma seines Heimatlandes:  „Der EuGH prägt nicht nur das Leben in Europa nachhaltig, sondern auch jenes in der Schweiz und dies in deutlich größerem Ausmaß, als es der breiten Gesellschaft und der Politik bekannt ist.“ Oesch stellt klar, daß das „EU-Recht das schweizerische Recht mittlerweile in seiner ganzen Breite und Tiefe“, durchdringe. Schweizer Behörden und Gerichte „legen die bilateralen Verträge, die auf EU-Recht beruhen, routinemäßig im Licht der Praxis des EuGH aus“. Immer wieder wird Luxemburg zu Rate gezogen. In der Konsequenz heißt das, daß ein EU-Bürger der in der Schweiz lebt, ein nichteuropäisches Familienmitglied leichter in die Schweiz holen kann als ein Schweizer Bürger in derselben Situation.

Anfang des Jahres übte auch der Delegationsleiter der FPÖ im EU-Parlament, Harald Vilimsky, scharfe Kritik an einem Urteil des EuGH, das einer türkischen Staatsbürgerin, die zwangsverheiratet und von ihrem Mann sowie dessen Familie bedroht worden sei, Asyl in Bulgarien gewährte. „Dieses Urteil ist ein weiteres Beweisstück dafür, wie der EuGH mit seiner Rechtsprechung die illegale Masseneinwanderung anheizt und ist ein ‘Dammbruch’ in die Richtung, faktisch allen Menschen auf dieser Welt, die in ihrer Heimat von Zwangsehen oder anderen Auswüchsen archaischer Kulturen betroffen sind, das Recht auf Asyl-Einwanderung zu uns einzuräumen. Das ist absurd und gegen die Interessen unserer eigenen Bevölkerung“, erklärte Vilimsky.