Sehr geehrter Herr Schaller-Baross, Ungarn übernimmt im Juli den EU-Ratsvorsitz. Welche Ziele setzt sich Ungarn unter Führung von Premier Viktor Orbán? Welche Themen stehen im Mittelpunkt?
Ernő Schaller-Baross: Die Regierungen Spaniens, Belgiens und Ungarns haben die wichtigsten Prioritäten bereits am Anfang des spanischen Ratsvorsitzes festgelegt. Neben dem gemeinsam vereinbarten Programm wird Ungarn der Förderung des Erweiterungsprozesses, der Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit, der Bewältigung der wachsenden demographischen Herausforderungen, der Eindämmung der illegalen Migration, der Stärkung der europäischen Verteidigungspolitik und der Stärkung der Kohäsionspolitik höchste Priorität einräumen. Von diesen Themen ragt die Frage der Demographie und der Erweiterungspolitik besonders hervor.
442 von 619 Abgeordneten des EU-Parlaments stimmten im Juni 2023 einer Resolution zu, die die Fähigkeit Ungarns, den EU-Ratsvorsitz zu übernehmen, anzweifelt. Die Resolution habe zwar keine rechtliche Auswirkung, solle aber ein Signal setzen, hieß es aus Brüssel. Nur ein unfreundlicher Akt?
Schaller-Baross: Die Entscheidung über das Verfahren, wer den rotierenden Vorsitz im Rat der Europäischen Union übernehmen wird, wurde einstimmig von den Mitgliedsstaaten getroffen. Das Europäische Parlament hat in dieser Frage keine Entscheidungsbefugnisse, also ist die Resolution als nichts anderes zu betrachten als eine politisch motivierte Stimmungsmacherei gegen mein Heimatland. Das könnte man wohl einen unfreundlichen Akt nennen, aber bei der Anzahl und Vehemenz der ähnlichen, unfreundlichen Akte, die Ungarn in den letzten Jahren verkraften mußte – mit Verlaub –, wird man nicht mehr so richtig überrascht, und das nur weil die Wähler Ungarns sich getraut haben, eine konservative Regierung zu wählen.
Der damalige christdemokratische niederländische Außenminister Wopke Hoekstra sprach gar von einem „Container großer Bedenken“ und verwies auf Probleme mit der Pressefreiheit, Minderheitenrechten und dem Umgang mit EU-Geld durch die Regierung von Orbán. Eine Minderheitenmeinung?
Schaller-Baross: Es ist zu bedenken, daß diese Aussage sich in eine Reihe vorgefaßter, tendenziöser, politischer Diffamierung ohne Fakten und ohne vorherige Überzeugung von der Realität eingliedert.
Das EU-Parlament hat angekündigt, die EU-Kommission aufgrund der Freigabe eingefrorener Fördergelder für Ungarn zu verklagen. Was läuft da schief auf der EU-Ebene?
Schaller-Baross: Das Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Ungarn steht meiner Meinung nach im Gegensatz zu dem Geist der Gründungsverträge der Europäischen Union. Nach mehr als einem Jahr Ringen führte das komplizierte Verfahren jedoch nicht zu dem Ergebnis, das sich die linke Mehrheit im Europäischen Parlament erhofft hatte: Am Ende des Verfahrens gab die Europäische Kommission einen beträchtlichen Teil der Ungarn zustehenden EU-Mittel frei, da sie zumindest dazu gesetzlich verpflichtet war, denn Ungarn hat alle geforderten Meilensteine erfüllt. Ein gutes Beispiel ist dagegen Polen, das ohne handfeste Ergebnisse im Falle der Justizreform alle eingefrorenen Fördermittel überwiesen bekam, nachdem das Land eine linke Regierung gewählt hat. Das bestärkt uns in dem Glauben, daß das Verfahren gegen Ungarn politisch motiviert ist. Das EU-Parlament verfolgt eine Politik des Aushungerns und erwartet von einem Rechtsstaatlichkeitsverfahren Gerechtigkeit auf politischer und nicht auf juristischer Basis. Diese Situation ist ein trauriges Spiegelbild der Funktionsweise des institutionellen Systems der EU und eine gefährliche Tendenz zur Delegitimierung von Demokratie und Politik, ebenso wie die politische Voreingenommenheit in der Funktionsweise der EU, die sich auf das Rechtsverfahren überträgt. Ich möchte noch erwähnen, daß der Rechtsdienst des Europäischen Parlaments eindeutig gegen das Gerichtsverfahren zwischen Parlament und Kommission war, da die Rechtsgrundlage nicht gegeben ist.
In seiner Nationalfeiertagsrede sprach Viktor Orbán von einem „Wendepunkt“ im Jahr 2024. Was ist darunter zu verstehen?
Schaller-Baross: Dieses Jahr wird sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten gewählt. In Europa ergibt sich die Möglichkeit, daß im Europäischen Parlament die rechtskonservativen und wahren christlich-demokratischen Kräfte große Mandatsgewinne erzielen und dadurch das Eu-ropa der Nationalstaaten stärken. Es ist aber auch von besonderer Wichtigkeit, daß in den USA die Republikaner wieder Mehrheiten in beiden Kammern des Kongresses stellen, und es wäre für den Frieden in dieser Welt besonders bedeutsam, daß sie auch die Präsidentschaft gewinnen.
Nach Angaben des Onlinedienstes European Interest (EI) hat Viktor Orbán öffentlich seinen Wunsch geäußert, daß seine Partei, die Fidesz, der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) im nächsten Europäischen Parlament beitritt, deren Vorsitzende die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni (Fratelli d’Italia) ist. Stimmt das?
Schaller-Baross: Es ist die Aufgabe und das Recht des Vorsitzenden und des Präsidiums unserer Partei, über Fragen bezüglich unserer Parteifamilie zu entscheiden. Ich habe schon die Entscheidung über unseren Austritt aus der Europäischen Volkspartei für zeitgemäß gehalten, da sich die EVP unter der Leitung von Manfred Weber von konservativen Werten entfernt hat und eine politische Union für Europa für nötig empfindet. Die Zusammenarbeit mit unseren italienischen und polnischen Freunden von der PiS, aber auch mit der spanischen Vox ist innerhalb und außerhalb des Europäischen Parlaments hervorragend. Ich glaube aber, daß die Entscheidungen über Fraktions- und Parteizugehörigkeit erst nach den Wahlen getroffen werden.
Wie ist das Verhältnis der Fidesz zur anderen Rechtsfraktion im EU-Parlament, der ID-Fraktion, der unter anderem Marine Le Pens Rassemblement National, die Lega, Geert Wilders’ PVV und die AfD angehören?
Schaller-Baross: Um eine konservative Mehrheit im EU-Parlament zu haben, braucht es eine enge Zusammenarbeit der genannten Kräfte. Es ist kein Geheimnis, daß wir zu Parteien wie Lega, PVV oder Rassemblement National oder der Freiheitlichen Partei Österreichs gute Kontakte haben. Mit der Alternative für Deutschland hat aber meine Partei keine institutionalisierten und aktiven Beziehungen, da wir Europarealisten sind und Europa von innen als Mitglied der Europäischen Union verändern möchten, während die AfD für den Austritt Deutschlands aus der Gemeinschaft eintritt.
Seit Anfang 2021 sind sie als Abgeordneter der Fidesz im EU-Parlament. Haben Sie sich die Arbeit dort so vorgestellt?
Schaller-Baross: Zuerst war es erschütternd selbst mitzuerleben, daß mit Hilfe der Stimmen der Europäischen Volkspartei die linken und liberalen Kräfte im Europäischen Parlament beachtliche Mehrheiten haben. Es handelt sich aber um eine Institution, die sich als Kraftzentrum der europäischen Demokratie versteht, zugleich aber auch nur ein Diskussionsforum ist, das sich selbst überschätzt und die vertraglichen Rahmenbedingungen schleichend umgehen will. Wenn wir uns das EU-Parlament ansehen, können wir sehen, daß die Apathie aufgrund der bescheidenen Wirksamkeit der Entscheidungsfindung ehrgeizige Fieberträume hervorruft, die die Bemühungen der Machterweiterung als europäische Philanthropie erscheinen lassen. Im Europäischen Parlament wird aber auch eine wichtige internationale parlamentarisch-diplomatische Arbeit geleistet, die gestärkt werden kann, und wir können zum internationalen Ansehen Europas weiter beitragen, wenn die politischen Kräfte, die das Europa der Nationalstaaten repräsentieren, an Zahl zunehmen und Europa durch ihre eigenen Staaten stärken sowie die Verträge der Union schützen. Dazu müssen Positionen zum Ausdruck kommen, daß Europa kein Bundesstaat ist, daß die EU-Kommission für die Nationalstaaten arbeitet und keine Regierung ist, und daß ich im EU-Parlament zuallererst Ungar bin und die ungarischen Wähler vertrete und erst danach Europäer.
Brüssel kritisiert auch immer die Haltung Ungarns im Ukraine-Krieg.
Schaller-Baross: Ungarn verurteilte den russischen Angriff, der gegen das Völkerrecht verstößt und vertritt bezüglich des russisch-ukrainischen Krieges von Anfang an den Standpunkt, daß es Frieden braucht. In Brüssel grassiert derzeit ein gefährliches, ja sogar sehr hohes Kriegsfieber, das die Gefahr einer Eskalation des Konflikts birgt. Die Situation Ungarns ist besonders, da in der Ukraine auch eine bedeutende ungarische Minderheit lebt, die einer erhöhten Gefahr ausgesetzt ist. Die ungarische Position klar: Wir unterstützen die Bemühungen um eine friedliche Lösung des Konflikts und werden auch denjenigen, die vor dem Krieg nach Ungarn fliehen, jegliche humanitäre Hilfe leisten. Wir haben in den letzten Jahren die größte humanitäre Aktion in der Geschichte meines Landes gesehen, durch die wir auch unserer christlichen Verpflichtung nachkommen.
Ernő Schaller-Baross, geboren 1987, war von 2001 bis 2005 Schüler der Österreichischen Schule in Budapest. Im Jahr 2010 erlangte er sein Diplom als Jurist an der Universität „Gáspár Károli“. Zwischen 2010 und 2016 arbeitete er unter anderem als Berater für auswärtige Angelegenheiten im Kabinett des Vizepräsidenten der ungarischen Nationalversammlung. Darauf folgend wurde er zum stellvertretenden Staatssekretär für internationale Angelegenheiten im Amt des Ministerpräsidenten ernannt. Seit Januar 2021 sitzt er für die Fidesz im EU-Parlament. Schaller-Baross ist verheiratet und Vater eines Kindes.