Um seinem Parteiapparat die Dringlichkeit der forcierten Industrialisierung und einer Kollektivierung der Landwirtschaft im Sowjetparadies vor Augen zu führen, warf Josef Stalin Anfang 1931 einige Gedanken „Über die Aufgaben der Wirtschaftler“ aufs Papier. Auf wenigen Seiten entfaltet der Diktator dort die gesamte Geschichte des alten Rußland als einzige skandalöse Chronik der Rückständigkeit. Nur wegen seiner ökonomischen, kulturellen und militärischen Rückständigkeit sei das Großfürstentum Moskau und das Zarenreich fortwährend von seinen Feinden geschlagen worden, von mongolischen Khans, türkischen Begs, schwedischen Feudalen, polnisch-litauischen Pans, englisch-französischen Kapitalisten und japanischen Baronen.
In dieser Klage, die der emeritierte Tübinger Osteuropahistoriker Dietrich Beyrau in einer Studie über „Rußland und der Erste Weltkrieg“ zitiert, verschweigt Stalin, daß viele dieser Widersacher längst im Orkus der Geschichte, ihre Staaten von den Landkarten verschwunden waren, während der zaristische Staat, einer der effektivsten Mechanismen territorialer Expansion, den es je gab, sich seit Peter dem Großen unaufhaltsam ausdehnte, von der Ostsee bis zum Pazifik. Das wäre schwerlich möglich gewesen mit unaufhörlich „geschlagenen“ Streitkräften. Tatsächlich verzeichnet die russische Militärgeschichte denn auch bis 1945 weit mehr Siege als Niederlagen. Allein im kriegerischsten 18. Jahrhundert stehen acht erfolgreiche Kriege einer Niederlage und drei „Unentschieden“ gegenüber. Daran schlossen sich von 1812 bis 1815 der Triumph über Napoleon sowie weitere Siege in blutigen Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich an. Erst mit dem Krimkrieg, der sich 1854 wiederum aus einem Konflikt mit der bröckelnden türkischen Großmacht entzündete, begann die Serie von „Rußlands verlorenen Kriegen“.
Ihnen widmet sich ein Doppelheft der Zeitschrift Osteuropa (3–4/2023), das den Krimkrieg (Leonid Luks), die „Hybris am Gelben Meer“, wie Andreas Renner (München) den russisch-japanischen Krieg von 1905 tauft, die verhängnisvolle Teilnahme am Ersten Weltkrieg (Beyrau), die „Eisige Hölle“ des sowjetisch-finnischen Winterkriegs 1939/40 (Michael Jonas, Hamburg), das Desaster des Afghanistan-Abenteuers (Georg Wurzer) sowie den von Walter Sperling (Max Weber Stiftung ) analysierten „Niederlagensieg“ in den Tschetschenienkriegen (1994 bis 1996 und 1999 bis 2009) mit ständigem Seitenblick auf den 2022 ausgebrochenen russisch-ukrainischen Krieg Revue passieren läßt.
Wie immer ist auch hier der Vergleich die Mutter der Erkenntnis. So stehen am Anfang jedes verlorenen Krieges seit 1854 die an Verblendung grenzende Unterschätzung des Gegners, unzureichende Rüstung und Organisation, die mit dem Nepotismus der Eliten korrelierende mangelnde Professionalität der Generale und, bis 1918, die niedrige Kampfmoral des zu einem Drittel aus Analphabeten bestehenden „russischen“ Bauernheeres, das sich um 1900 zu vorwiegend aus eingezogenen Soldaten verschiedenster Völker rekrutierte, von denen 19 Prozent aus Polen, Litauen und dem Baltikum stammten. Daß es durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht (1874) nicht gelang, unter ihnen ein „allrussisches“ Bewußtsein“ zu fördern, erklärt die schockierend hohe Anzahl von Überläufern sowie Soldaten, die sich im Ersten Weltkrieg ohne große Gegenwehr in die Gefangenschaft der Mittelmächte begaben: 2,7 Millionen saßen bis 1918 in deutschen und österreichisch-ungarischen Lagern. Das waren fast 20 Prozent der für die „russische Dampfwalze“ ausgehobenen 14,5 Millionen Soldaten. Aber selbst nach zwei Jahrzehnten rigider Alphabetisierung seiner Rotarmisten und der Bemühungen des bolschewistischen Regimes, ihnen „internationalistischen Sowjetpatriotismus“ einzuimpfen, laborierten die Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg weiterhin unter dem „Überläufer-Syndrom“.
Lange Tradition realitätsfremder Kräftebeurteilungen des Feindes
Allein bis Oktober 1941 wurden 647.000 Deserteure, darunter eine hohe Quote von Nicht-Russen, vor ihrer Flucht abgefangen, davon 10.000 wegen versuchter Fahnenflucht erschossen. Der schlechten Moral der Muschkoten in Verbindung mit der eklatanten Führungsschwäche eines Offiziers- und Unteroffizierskorps, das der Autokrat Nikolaus I., der „Erzvater der Reaktion“, der sich militärisch auf nur zwei zuverlässige Verbündete verließ, „die Generäle Januar und Februar“, bewußt nicht zu Selbständigkeit und Verantwortung erzogen hatte, war im Krimkrieg geschuldet, daß nach anfänglichen Siegen eine halbe Million Russen vor einem britisch-französischen Expeditionsheer von 70.000 Mann die Waffen streckten.
Nikolaus’ Sohn, Alexander II., zog mit seiner Politik der Reformen, der Bauernbefreiung, der Reorganisation des Heeres, der Einführung der Wehrpflicht und dem Ausbau des Eisenbahnsystems zwar einige Lehren aus dem Krim-Debakel. Aber das reichte nicht, um den ersten modernen, von Massenarmeen und Materialschlachten geprägten Krieg zu gewinnen, den gegen Japan. Den Rat des Zaren Nikolaus II. und seiner zivilen Minister in den Wind schlagend, es im Fernen Osten bei der wirtschaftlichen Durchdringung Chinas zu belassen, riskierten die Militärs einen Krieg mit Nippon, ohne zu ahnen, daß diese aufstrebende Macht Rußland rüstungstechnisch turmhoch überlegen war. Aus der programmierten Niederlage lernten die Politiker und Militärs des Zaren jedoch nichts. Stattdessen stürzten sie sich 1914 auf der Flucht vor der Revolution in den Ersten Weltkrieg, der für das Zarenreich mit der katastrophalen Niederlage in der Schlacht von Tannenberg begann und mit Lenins Machtübernahme endete.
Ganz in der zaristischen Tradition realitätsfremder Kräftebeurteilungen eröffnete die Rote Armee am 30. November 1939 ihren Winterkrieg gegen Finnland. Einen Spaziergang nach dem Muster der sowjetischen Besetzung Ostpolens im September 1939 erwartend, wurden nur die Truppen des Bezirks Leningrad mobil gemacht, vier Armeen mit 500.000 Mann, 2.000 Panzern und 2.000 Flugzeugen, die einen Blitzkrieg und ein rasches Finis Finlandiae zu garantieren schienen, gegen einen neutralen Kleinstaat, der gerade einmal über 250.000 Soldaten und zehn einsatzfähige Panzer verfügte. Darum war die Musik für die Siegesparade in Helsinki, ein Zyklus finnischer Volkslieder für die „befreiten“ Arbeiter und Bauern, von Dimitri Schoschtakowitsch bereits komponiert. Für den Waffengang Wichtigeres fehlte hingegen wieder einmal: Winterausrüstung und Skier. Nicht bedacht hatte Stalin zudem, daß 75 Prozent des höheren Offizierskorps seiner „Großen Säuberung“ zum Opfer gefallen war und die Armee nur mehr über, wie Jonas formuliert, „militärisch unerfahrene und miserabel ausgebildete Offiziere“ verfügte.
Zu Weihnachten 1939 stagnierte die sowjetische Offensive an allen Fronten, das finnische Verteidigungssystem, die „Mannerheim-Linie“ hielt stand, ein Befehlshaber nach dem anderen mußte wegen Unfähigkeit seines Postens enthoben werden. Der Kommandeur der 44. Motorisierten Schützendivision wurde nach der verlorenen Schlacht von Suomussalmi am 11. Januar 1940 sogar exekutiert – zusammen mit seinem Stab. Eine Wende trat erst ein, als Goliath von David lernte und die Guerilla-Taktik der finnischen Waldkämpfer mit massiertem Einsatz von Artillerie, Panzern und Flugzeugen parierte, so daß im Februar 1940 entscheidende sowjetische Frontdurchbrüche den Finnen keine andere Wahl ließen, als sich einem Moskauer Friedensdiktat zu beugen. Die Analyse ihrer schweren Fehler im Finnland-Krieg, so meint Jonas, habe für die Führung der Roten Armee letztlich die Grundlage ihres Abwehrkampfes gegen die Wehrmacht gebildet. Während Adolf Hitler und der deutsche Generalstab beim „Unternehmen Barbarossa“ ins alte russische Muster zurückfielen, den Gegner grob zu unterschätzen, lediglich weil der sich ihnen einige Wochen als „tönerner Koloß ohne Kopf“ präsentiert hatte.
Der prognostizierte Sieg in Tschetschenien fiel ins Wasser
Die weitverbreitete, im aktuellen Ukraine-Kontext gern kolportierte Ansicht, auch der desaströse Verlauf der Kriege in Afghanistan (1979 bis 1989) und Tschetschenien sei wieder eine Folge „typisch russischer“ Leichtfertigkeit gewesen, lassen die Beiträge des „freien Historikers“ Georg Wurzer und Walter Sperlings nur eingeschränkt gelten. Für Wurzer steht die Intervention am Hindukusch nicht in der außenpolitischen Kontinuität des russischen Expansionismus und seines Strebens nach „warmen Gewässern“, sollte damals auch noch nicht den Vormarsch des Islam Richtung Russisch-Asien stoppen. Ziel des Engagements war es vielmehr, den Truppen des kommunistischen Regimes in Kabul den Rücken im Kampf gegen die von den USA unterstützen Mudschaheddin-Guerilla freizuhalten und nicht selbst in diesen Kleinkrieg einzugreifen. Es kam anders und Afghanistan wurde für die physisch und psychisch überforderte, von ethnischen Spannungen zerrissene, zuletzt von Drogensucht und Alkoholismus demoralisierte Truppe zum sowjetischen Vietnam.
Den Befehl, Soldaten nach Tschetschenien zu schicken, wo sich mit dem radikalen Islam das Chaos ausbreite erteilte Rußlands Präsident Boris Jelzin Ende 1994 nur widerstrebend. Wohl wissend, daß nichts aus dem von Geheimdienst und Militär prognostizierten „kleinen, siegreichen Krieg“ werden würde. Bis 2009 glückte zwar der russische Versuch, den islamistischen Separatismus und Terrorismus in diesem Teil des Nordkaukasus zu ersticken, zumindest vorläufig. Für diese „Spezialoperation“ gilt weiterhin ein altes russisches Sprichwort: „Wir wollten das Beste, aber es kam wie immer.“ https://zeitschrift-osteuropa.de
Bild: William Crimea Simpson, „Im Innenraum der Festung Malakoff am 8. September 1855“, Kunstdruck von 1900: Im Krimkrieg mußte ein Heer von einer halben Million Russen vor einem britisch-französischen Expeditionsheer von 70.000 Mann die Waffen strecken