© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/24 / 05. April 2024

Antisemitismus in Zeiten der Weltoffenheit
Ein Konsens dankt ab
Thorsten Hinz

Aus künstlerischer Sicht hätte man sich die Berlinale 2024 schenken können. Lehrreich war sie dennoch. Sie hat nach Weltoffenheit und Diversität gerufen und hat beides bekommen. Und siehe da, die bunt-diverse Welt sieht so ganz anders aus, sie denkt, fühlt und spricht ganz verschieden von dem, was bundesdeutsche Kulturbürokraten und Vielfaltspropagandisten für richtig halten. Vor allem denkt sie nicht daran, sich die offizielle Haltung der Bundesrepublik gegenüber Israel zu eigen zu machen.

Vor dem Hintergrund des Krieges im Gazastreifen gab es auf dem Festival eine entschiedene Solidarisierung mit den Palästinensern und eine ebenso entschiedene Kritik an Israel. Der Film „No Other Land“, der die Zerstörung eines palästinischen Dorfes im Westjordanland und die Drangsalierung seiner Bewohner durch die israelische Armee und aggressive Siedler dokumentiert, gewann den Silbernen Bären. Einer der zwei Co-Regisseure, der palästinensische Aktivist Basel Adra, forderte in seiner Dankesrede Deutschland auf, keine Waffen mehr an Israel zu liefern. Zudem sagte er: „Es ist für mich sehr, sehr schwer zu feiern, während Zehntausende Menschen meines Volkes in Gaza gerade abgeschlachtet und massakriert werden.“ Sein israelischer Kollege Yuval Abraham sprach von „Apartheid“, der US-Filmemacher Ben Russell sogar vom „Genozid“ an den Palästinensern. Das Publikum applaudierte. Politiker, Medien- und Verbandsvertreter in Deutschland sprechen deswegen von Antisemitismus und kritisieren insbesondere den Genozid-Vorwurf, der durch die Völkermord-Definition der Uno nicht gedeckt sei. Dazu später.

Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda (SPD) wenigstens hat begriffen: „Es gibt internationale Diskurslagen, die sich hart brechen mit dem, was wir in Deutschland für richtig und angemessen halten. Je stärker man in internationalen Netzwerken arbeitet und je mehr internationale Künstlerinnen und Künstler präsent sind, desto mehr kann es deshalb zu Konflikten kommen“, sagte er der Zeit.

Diese „Diskurslagen“ lassen sich nicht mit Einreiseverboten aussperren. Deutschland würde sich lächerlich machen und in seiner Blase weiter isolieren. Allerdings ist zu Recht moniert worden, daß der Israel-Kritik auf der Berlinale der Kontext fehlte, namentlich der Hinweis auf das Massaker vom 7. Oktober 2023 und auf die Geiseln, die sich seit Monaten in der Hand der Hamas befinden. Tatsächlich befremdete die Eiseskälte, mit der die deutsche Kulturszene diese Verbrechen quittierte. Doch auch die Killerkommandos der Hamas sind in einem Kontext entstanden. Die meisten ihrer Mitglieder dürften um das Jahr 2000 geboren und unter unsäglichen Umständen aufgewachsen und sozialisiert worden sein. Nachdem jetzt der Gazastreifen weitgehend dem Erdboden gleichgemacht ist, wächst eine weitere Generation heran, für die der Tod zum Beruf wird. Und natürlich haben die zigtausend Toten, die der israelische Militäreinsatz gekostet hat, auch den Blick auf den 7. Oktober verändert.

Die Faktenlage löst widersprüchliche Empfindungen aus: Wäre Benjamin Netanjahu nicht der Ministerpräsident Israels, würde man ihn wohl als Kriegsverbrecher bezeichnen. Andererseits regiert er ein winziges, von Feinden umstelltes Land, das für seine Bewohner und die Juden weltweit die letzte, definitive Sicherheits- und Überlebensgarantie darstellt. Für die Deutschen war es wegen des Holocausts stets Gewissenspflicht gewesen, sich unverrückbar an die Seite Israels zu stellen und einen Quasi-Philosemitismus zu pflegen. Wie lange aber wird die Pflicht noch empfunden, wenn täglich Horrorbilder aus Gaza über den Bildschirm flimmern? Inzwischen ist von Hungertoten die Rede. „Free Palestine from German Guilt“ – dieser abstruse Schlachtruf junger, linker Demonstranten in Berlin drückt das Bedürfnis aus, sich nicht länger auf eine unablösbare Erbschuld festlegen zu lassen.

Im Jahr 2000 hatte in Stockholm eine Konferenz der „Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken“ stattgefunden. Die Allianz umfaßt heute 34 überwiegend westliche Staaten. In der verabschiedeten Erklärung hieß es: „Der Holocaust (Shoah) hat die Grundlagen der Zivilisation grundlegend in Frage gestellt. Der beispiellose Charakter des Holocaust wird immer eine universelle Bedeutung haben.“ Um sie als globale Direktive zu verankern, wurde eine internationale Holocaust-Erziehung angeregt.

In Berlin wurde 2005 nach jahrelanger Planung, Vorbereitung und Beschlußfassung das Holocaust-Mahnmal in Berlin eingeweiht. Der deutsch-israelische Historiker Dan Diner meinte damals, die deutsche Gedenkstättenlandschaft nehme „geradezu paradigmatischen Charakter an. Berlin entwickelt sich zunehmend zu einem universellen Gedächtnisort der Vergangenheit“. Der Holocaust bekäme „zunehmend die Bedeutung eines Gründungsereignisses“ für Europa und entfalte perspektivisch eine Gedächtniswirkung wie die Reformation oder die Französische Revolution. Die Geschichte der Juden werde zur „erkenntnisleitenden Warte einer integrierten europäischen Historie“.

Diner hatte die deutsche Verfaßtheit auf den Punkt gebracht. In der Bereitschaft der übrigen Welt, am deutschen Wesen zu genesen, jedoch täuschte er sich gründlich. Seine Worte klingen heute wie Botschaften aus einer versunkenen Zeit. Nicht nur die „Diskurslagen“ haben sich verschoben, auch die realen Gewichte in der Welt. Europa ist nur noch eine Provinz unter anderen, der Westen verliert sein Deutungsmonopol, und der deutsche Standpunkt wird nicht einmal von sämtlichen Bündnispartnern geteilt. SPD-Chef Lars Klingbeil kehrte von seiner Afrika-Reise mit der Erkenntnis zurück, daß das „Vorgehen der israelischen Armee in Gaza (...) gerade im Globalen Süden schnell für Empörung gesorgt (hat)“ und den „Vorwurf westlicher Doppelstandards“ auslöst. Das applaudierende Publikum bei der Abschlußveranstaltung der Berlinale war international. Die deutsche Kulturszene fügte sich nahtlos ein. Flagge gegen die AfD zu zeigen ist im nationalen Rahmen schick, im internationalen Rahmen ist es die Begeisterung für den Antikolonialismus. Alte Linke werden sich erinnern, daß Israel auch hier lange als ein koloniales Projekt des Westens und als „Speerspitze des US-Imperialismus“ gegolten hatte. Unausgesprochen spielt zudem eine Rolle, daß man der autoritären Dominanz des Holocaust-Diskurses überdrüssig ist und ihn als lähmend und bevormundend empfindet.

Unterm Strich ist die Haltung zu den Juden und zu Israel oft mehr von Affekten als von sicheren Einsichten und Überzeugungen bestimmt gewesen. Überzeugungen sind beständig, Affekte sind wechselhaft, ihre Vorzeichen können sich ändern.

Ein bizarrer Ausläufer des forcierten Philosemitismus war im Oktober 2021 zu besichtigen, als der deutsch-jüdische No-Name-Musiker Gil Ofarim den Angestellten eines Leipziger Hotels des Antisemitismus bezichtigte, nur weil der in ihm partout keine Reinkarnation von David Bowie erkennen mochte. Obwohl die Vorwürfe von Anfang an hanebüchen waren, vereinten Journalisten, Politiker und die üblichen zivilgesellschaftlichen Bekenner sich zu einer lärmenden Kampagne gegen das sächsische „Dunkeldeutschland“.

Schweigen herrschte hingegen, als es Anfang Februar in Berlin zu einem unzweifelhaften judenfeindlichen Vorfall in Berlin kam: Der Student Lahav Shapira wurde von einem Kommilitonen palästinensischer Herkunft mit deutscher Staatsbürgerschaft brutal zusammengetreten. Obwohl die Attacke sich ausdrücklich auf Shapiras Judentum bezog, lag die öffentliche Anteilnahme nur knapp über der Schwelle zur Wahrnehmbarkeit. Das Schweigen dürfte erstens auf eine Risikoabwägung, zweitens auf einen Empathie- und Loyalitätswechsel zurückgehen. Wie im Kleinen, so im Großen: Migrantengruppen mit genügend Masse und viriler Power setzen neues Recht und brüllen auf deutschen Straßen offenen Judenhaß heraus, ohne die Polizei und Justiz fürchten zu müssen.

Die Deutschen stehen rat- und hilflos vor dem Dilemma, im Zeichen des zivilreligiösen „Nie wieder!“ zugelassen zu haben, daß ihr Land sich in einen Vielvölkerstaat verwandelt hat. Migranten bestimmen zunehmend die Regeln des Zusammenlebens und legen neue, andere Tabus fest, während speziell Juden zum Zielobjekt von Aggressionen werden.

Die Genozid-Definition der Uno ist nicht mehr unumstritten, wonach ein Völkermord vorliegt, wenn eine Gruppe „als solche“ getötet wird, also nicht im Zuge von Kriegshandlungen, sondern weil man sie als ontologisches Übel betrachtet und auslöschen will. Definition und Begriff waren lange für den Holocaust reserviert. Der australische Historiker A. Dirk Moses, der vor drei Jahren mit seinem bissig-ironischen „Katechismus der Deutschen“ die Historiker- und Journalistenzunft in Wallung gebracht hatte, hält das für eine eurozentristische bzw. westliche Anmaßung. Die Definition sei kurz nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Eindruck des Judenmordes verabschiedet worden und das Produkt „einer spezifischen Konstellation von Ideen und Interessen“. Vor allem entsprach sie der Interessenlage der Weltkriegssieger, die Deutschland das ultimative Haßverbrechen auf sein Schuldkonto setzten, ohne zu riskieren, mit den eigenen Kriegsverbrechen unter das Völkermord-Verdikt zu fallen.

Doch weder die Kolonialgeschichte noch der Zweite Weltkrieg, noch die zwischen- und innerstaatlichen Gewalttaten, die ihm folgten und Millionen Opfer forderten, lassen sich nach diesen Kriterien säuberlich sortieren. Moses empfiehlt, den Genozid als eine „Unterkategorie“ zu begreifen, als den speziellen Versuch einer „dauerhaften Sicherung“. Darunter versteht er „das Streben von Staaten und bewaffneten, an Staatsgründung interessierten Gruppierungen, sich gegenüber aktuellen und zukünftigen Bedrohungen unverwundbar zu machen“.

Moses unterscheidet die antiliberale von der liberalen Sicherung: Die antiliberale Variante läßt sich nicht immer, aber oft auf ein Trauma, etwa auf eine Niederlage zurückführen, deren Wiederholung ausgeschlossen werden soll. Es geht um partielle Ziele wie die Sicherung eines begrenzten Territoriums. Die liberale Sicherung hingegen erklärt sich mit universalistischen Argumenten und verdammt den Gegner als „Feind der Menschheit“, was Luftangriffe, Hungerblockaden, Massenvertreibungen erlaubt.

Welche Kategorie trifft auf die Verbrechen der Hamas zu, welche auf das Vorgehen Israels? Oder benötigen wir eine dritte, eine vierte? Und wie positionieren wir uns in einer veränderten Welt, die unsere moralischen Ewigkeitsklauseln längst als Merkmale politischer Altersdemenz und Schwäche wahrnimmt? Solche Fragen lassen sich nicht innerhalb des alten Antisemitismus-Diskurses beantworten. Der ist brüchig geworden und steht international vor der Verabschiedung. Dieser Diskurs ist in der Vergangenheit immer wieder gegen Rechte und Konservative gewendet worden. Es wäre ein Treppenwitz, wenn die sich nun als seine letzten Verteidiger betätigten. Die Berlinale war ein Seismograph und fordert dazu heraus, sich um die Schärfung eines neuen Vokabulars zu bemühen, ohne in ein anderes Extrem zu verfallen.


Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, studierte in Leipzig Germanistik, war JF-Kulturredakteur und ist heute freier Publizist und Buchautor. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Folgen des Kriegs in der Ukraine („Das Intermarium schlägt zurück“, JF 40/23).