Das Leben eines künstlerischen Genies ist oftmals von Spannungen und Brüchen gezeichnet. Im Falle des Country-Musikers Willie Nelson, dem wohl berühmtesten Gras rauchenden Hippie der Welt, kann man diese Widersprüche anhand der kürzlich veröffentlichten Dokuserie „Willie Nelson and Family“ nachverfolgen. „The Family“ heißt seine Band. Auf der einen Seite schätzt er Gemeinschaften, Familie, Freunde und Traditionen, auf der anderen steht sein ungezügelter Individualismus, sein der Hippiementalität entspringender Drang, die Dinge auf seine eigene Art und Weise zu tun. Insofern ist er bis heute unfähig, den Erwartungen anderer zu entsprechen. Doch eben diese Kombination brauchte der Country, als Nelson die Bühne betrat.
Die meisten Leute assoziieren Willie Nelson heutzutage hauptsächlich oder sogar ausschließlich mit Marihuana – sein Lebensstil ist mittlerweile fast berühmter geworden als seine Musik. Und Pot erhält in der Serie „Willie Nelson and Family“ – neben Nelsons einzigartiger Persönlichkeit und Philosophie – einen prominenten Platz in der Erzählung. Am Ende läßt diese aber keinen Zweifel daran, daß Nelson vor allem als Ausnahmekünstler in Erinnerung bleiben sollte.
In Nelsons Kindheit finden sich Elemente, die im Laufe seines Lebens immer wieder auftauchen, allen voran natürlich die Musik, doch auch die Erfahrung zerbrochener Ehen, über die starke Familienbande zuletzt immer wieder hinweghalfen. Seine Eltern trennten sich schon kurz nach seiner Geburt am 29. April 1933 und gaben ihn und seine Schwester Bobbie (mit der ihn das in seinem Leben vielleicht innigste Verhältnis verband) in die Obhut seiner Großeltern, die zwar nicht reich, dafür aber musikalisch waren. Sie kauften dem kleinen Willie die erste Gitarre und Bobbie ein Klavier. Beide Kinder erhielten früh die Möglichkeit, ihre Instrumente auch auf der Bühne zu spielen. Nelsons erster Gig war mit einer Polka-Band in einem Tanzlokal – von einzelnen Auftritten in Kirchen abgesehen. In den folgenden Jahren schlug sich der heranwachsende junge Mann mit mehreren Jobs durch und spielte in einer ganzen Reihe von Bands, bis er schließlich Arbeit beim Radio fand. Nach mäßigen Erfolgen als Songwriter zog er 1960 mit seiner ersten Frau und den Kindern nach Nashville.
In Nashville wurde Nelson sofort in eine Stilschublade gesteckt
Am Anfang der dritten Folge von „Willie Nelson and Familiy“ erläutert der Musiker seine Ansicht, daß wirklich große Musik sich Trends verweigert. Sie komme niemals aus der Mode, selbst wenn sich an ihrer Oberfläche Änderungen wie die der Jahreszeiten abspielten. Nun, die Bosse im Country-Geschäft der sechziger Jahre haben Nelson das allerdings nicht abgekauft. Sie konzentrierten sich im Gegenteil darauf, dem Trend der Zeit zu folgen – und dieser Trend hieß „Nashville Sound“. Der Nashville Sound zeichnete sich durch seine Affinitäten zur Popularmusik aus und verband überschwenglichen Gesang mit satten Streicher- und Chorpassagen sowie eingängigen Texten, was dem kultivierten Hörer aus dem Mittelstand damals sehr gefiel. Als Nelson in Nashville ankam, wurde er sofort in diese Stilschublade gesteckt. Er erzielte schnelle Erfolge als Songwriter (vor allem mit der Nummer „Hello Walls“ und dem für die Sängerin Patsy Cline geschriebenen Hit „Crazy“), doch seine eigenen Alben wollten nicht so recht durchstarten.
Mit seiner lockeren Gesangstechnik, seiner Art, dem Takt immer ein Stück weit hinterher zu singen und dem einzigartigen Klang seiner eigentlich auf klassische Musik ausgelegten Gitarre bot Nelson weniger Pose und einfachere Klänge an, als man in Nashville seinerzeit gewohnt war. Die Produzenten glaubten deshalb auch nicht daran, daß sich das Publikum für die einfacheren Songs begeistern könne, die so sehr an die rauhere Folk-, Country- und Honky-Tonk-Musik der vorangehenden Dekaden erinnerte. Diese Entscheidungsträger dachten nicht im Traum daran, daß ein Künstler diesen Genres neues Leben einhauchen könnte, indem er sie neu erfindet. Nelson hingegen wollte zwar in der Tradition der alten Countrymusik auftreten, tat das aber auf seine eigene Art.
Seine große Chance kam 1972, als er nach Texas zurückkehrte, sich (ein zweites Mal) scheiden ließ und sein Haus bei einem Feuer verlor. Vor allem die letztgenannte Episode riß ihn aus einer kreativen Lethargie heraus. In Austin lernte er Leute kennen, die willens waren, ohne die von Marktgurus entwickelten Schablonen zu denken. Die Stadt war dafür bekannt, daß sich dort Hippies und Rednecks die Hand reichten, um zusammen eine Mischung aus Folk, Rock und Country zu hören. Nelsons wurde in dieser Atmosphäre immer seltener vorgeschrieben, mit welchen Künstlern er im Tonstudio arbeiten sollte. Immer öfter konnte er sich seine Bandkollegen selbst aussuchen – seine Schwester Bobbie war eine der ersten, die er mit ins Boot holte. Vor allem aber bekam er bald die Freiheit, die Musik zu machen, die er eigentlich machen wollte. Unmittelbar nachdem ihm seine Plattenfirma die volle kreative Freiheit zugesichert hatte, gelang ihm schließlich der Durchbruch: Das Album „Red Headed Stranger“ (1975) wurde mit Preisen überhäuft und gilt seither als typisches Beispiel des Nelsonschen Ineinanders von Traditionalismus und Innovation.
Das Konzeptalbum erzählt das Schicksal eines Predigers, der an der Untreue seiner Ehefrau verrückt wird. Er bringt sie und ihren Liebhaber um, irrt anschließend ziellos auf der Straße umher – wo er weiter mordet. Am Höhepunkt seiner Leidensgeschichte durchbricht die Instrumentalhymne „Just As I Am“ die Verzweiflung. Er findet inneren Frieden, die Liebe und ein neues Zuhause.
Nelsons Weg auf der Suche nach seinem eigenen Klang
Vor allem die sparsame Instrumentation und simple Produktion des Albums wird in der Serie „Making Music with His Friends“ hervorgehoben. „Auf der Platte ist nichts als eine ganze Menge Seele“, stellt der Countrysänger Ray Benson in einer Folge fest. Nelson bemerkte über den Tonträger, daß er Country aus den 1940ern im Ohr hatte, als er ihn einspielte. Viele Nummern auf der Platte waren Traditionslieder oder zumindest schon Jahrzehnte alt. Als bestes Beispiel dient einer der Songs von Willie Nelson mit dem höchsten Wiedererkennungswert – „Blue Eyes Crying in the Rain“. Bereits in den vierziger Jahren wurde das Stück von berühmten Künstlern eingesungen, darunter auch Roy Acuff und Hank Williams.
Die Herangehensweise der Dokumentation an „Red Headed Stranger“ verwirrt an manchen Punkten, springt die Erzählung doch immer wieder aus der Chronologie heraus, um den musikalischen Stil Nelsons einzufangen. Diesem Ansatz gleitet die Dramatik aus der Hand, die dabei entsteht, wenn man Nelsons Weg auf der Suche nach seinem eigenen Klang nachzeichnet. Außerdem redet „Making Music with His Friends“ die Kontroverse klein, die das erste kommerziell erfolgreiche Album Nelsons damals ausgelöst hatte. Ein Mitarbeiter der Plattenfirma „Columbia“ bezeichnete es als einen „Scheißhaufen“, der so klänge, als hätte man ihn im Wohnzimmer aufgenommen. Die Veröffentlichung der Platte stieß denn auch zunächst auf einigen Widerstand.
Mit „The Troublemaker“ nennt die Serie ein weiteres Beispiel dafür, wie sich Nelson kreativ mit der Tradition auseinandergesetzt hat, aus der er hervorgegangen ist. Gospelplatten hatten einen festen Platz in der Countrymusik der sechziger und siebziger Jahre. Aber die Aufnahmen waren oftmals lieblos eingespielte Gelegenheitsstücke, die unter „Gospel“ abgehakt wurden. Keines dieser Alben hatte die Lebhaftigkeit und Frische von „The Troublemaker“.
Künstlerischer Erfolg mit einer Freude am Experiment
Die Platte verdankt sich einer Studiosession in New York City, an der sich erstmals auch Nelsons Schwester Bobbie als Pianistin beteiligte. Wie Nelson und Bobbie in „Making Music with His Friends“ verraten, haben sie die Songs aus „The Troublemaker“ alle schon in ihrer Kindheit im Haus ihrer Großeltern zusammen gesungen. Nelson gab den Liedern einen Honky-Tonk-Twist mit einer Instrumentierung (Bobbie am Klavier und Mickey Raphael an der Mundharmonika), die später zu seinem Signaturklang werden sollte. Das Album schwankt zwischen schnellen Nummern, die sich so anhören, als kämen sie direkt von einem Freiluftgottesdienst, und langsamen bis schwerfälligen Songs auf der Suche nach Frieden – unterbrochen nur von einem frechen kleinen Stück, das sich über alle Menschen lustig macht, die nicht wollen, daß Hippies über Jesus singen. Mit diesem Geniestreich schaffte es Nelson, eine Platte voller Baptistenliedgut nicht nur an die Spitze der Country-Charts, sondern auch auf Platz eins der Billboard 200 Pop-Charts zu befördern.
Erfolge wie diese waren ein Zeichen dafür, daß sich die traditionelle Country-Musik in eine neue Richtung bewegte. Damit sich eine Tradition wirklich weiterentwickeln kann und nicht nur eine leere Wiederholung bleibt, braucht sie Phantasie. Sie muß lernen, ihre eigenen Stärken immer wieder aufs neue zu artikulieren und sich dabei zu erneuern. Künstler wie Willie Nelson, Waylon Jennings und andere haben unter Beweis gestellt, daß kommerzieller und künstlerischer Erfolg mit einer Freude am Experiment einhergehen, daß Blues und Rock ’n’ Roll Country bereichern können und nicht entstellen. Sie brachten ihre musikalische Handschrift in ein produktives Gespräch mit Musikstilen wie Folk, Honky-Tonk und Western Swing. Ihre Musik hörte sich an wie authentischer Country – nur neu und aufregend. Auf der Suche nach einem Namen für dieses neue Genre kamen Marketingleute auf den Namen „Outlaw Country“, ein Begriff für den sich Nelson kein Stück weit interessierte, da er ihm sowieso nur dafür geeignet erschien, seine Musik in irgendeine Schublade zu stecken, was er nie wollte.
In Anbetracht der Tatsache, daß Nelson stets gegen den von der Popmusik inspirierten Sound aus Nashville rebelliert hat, entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, daß er mit Anleihen aus anderen Genres selbst so viel Erfolg hatte wie kein anderer Countrysänger in den späten siebziger und achtziger Jahren. Auf seinem Album „Stardust“ nahm er Songs aus dem Great American Songbook auf, nur um dann in „Always on My Mind“ mehrere Pop- und Rocksongs zu covern. Beides machte seine Manager verrückt, die sich nun, da sie wußten, daß er sich verkauft, mehr von Nelsons „Outlaw-Kram“ wünschten. Der Schlüssel zu diesem Erfolg liegt darin, daß Nelson nie versucht hat, den Klang anderer Künstler zu imitieren oder poppiger zu werden. Was er auch sang, es war ein authentischer Nelson.
„The life I love is making music with my friends“ – „Musik mit meinen Freunden zu machen ist das Leben, das ich liebe“: das sind die Worte aus Nelsons Hit „On The Road Again“ von 1980. Auf diese Freunde fokussiert sich der zweite Teil der gleichnamigen Serie. Nelson nahm seine Freunde auf dem Weg zum Erfolg mit sich. Er spielte eine Vielzahl von Duetten mit Berühmtheiten wie Merle Haggard, Lionel Richie und Ray Charles, aber auch alten, schon lange nicht mehr berühmten Freunden wie Hank Snow und Popstars wie Julio Iglesias. Und er gründete mit Waylon Jennings, Johnny Cash und Kris Kristofferson eine eigene Supertruppe, die Highwaymen (seither auch als „Mount Rushmore der Countrymusik“ bekannt).
Nachdem er mit Ray Charles den Titel „Seven Spanish Angels“ aufgenommen hatte, verstanden sich die beiden sehr gut. In „Making Music with His Friends“ verrät Nelson, wie schwer es war, mit dem blinden Soulsänger eine Partie Schach zu spielen, da dieser nur ein Schachspiel besaß, bei dem alle Figuren die gleiche Farbe hatten. Er war sichtlich berührt, als Charles kurz vor seinem Tod zu Nelsons 70. Geburtstag ein Ständchen für ihn sang. Nelson wiederum spielte auf seine Bitte hin „Georgia on my Mind“ auf dessen Beerdigung.
Es sollte also nicht überraschen, daß Nelsons Freunde auch während seiner Probleme mit dem Finanzamt zu ihm hielten, die für viele Schlagzeilen sorgten. Sie kauften die Zwangsversteigerungen leer, um ihm seine Habseligkeiten zurückzugeben. Selbst der Fahrer des Tourbusses machte dabei mit. Am Ende konnte sich Nelson aus seinem Schuldenberg mit derjenigen Tätigkeit herausarbeiten, die er am besten konnte – Lieder singen.
Der Walzer durch Nelsons Leben, dem der Zuschauer von „Making Music with His Friends“ beiwohnt, birgt noch viele weitere interessante Geschichten zu all den Dingen, die der Kenner erwartet. Seine legendäre Gitarre „Trigger“ hat einen Auftritt. Nelson hat sie mit den Jahren derart verschlissen, daß sie ein zweites Schalloch bekommen hat. Auch sein bis oben hin vollgerauchter Tourbus kommt vor. Die Menge an Gras, die Nelson stets dabeihatte, war dermaßen hoch, daß die Polizei einst mit dem Verdacht des Drogenhandels auf ihn zukam. Doch auch seine Stiftung „Farm Aid“ kommt zum Zuge, mit der sich der Musiker für den Erhalt von Familienbetrieben in der Landwirtschaft einsetzt. Gottseidank wird sein Progressivismus in politischen Fragen nur am Rande erwähnt.
Als Willie Nelson die Bühne betrat, brauchte Country jemanden, der die Musik über deren Produktion stellte. Das Genre brauchte jemanden, der die besondere Tradition wirklich liebte. Und es brauchte jemanden mit einer Portion Phantasie, um sich außerhalb überlieferter Grenzen etwas Neues auszudenken. So seltsam es vielleicht klingt – Country brauchte einen Hippie.
John G. Grove, Jahrgang 1986, ist leitender Redakteur der Zeitschrift Law & Liberty, die zum Netzwerk „Liberty Fund“, einer gemeinnützigen libertären Bildungsstiftung, gehört. Zuvor lehrte er Politikwissenschaft an der Lincoln Memorial University im US-Bundesstaat Tennessee. https://lawliberty.org
Der aus dem Englischen von Florian Werner übersetzte Text erschien zuerst auf der Netzseite von „Law & Liberty“ und ist hier in einer gekürzten Fassung wiedergegeben.