© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/24 / 05. April 2024

Dorn im Auge
Christian Dorn

Feeling B – und die Welt ist okay. Inmitten der Zeitenwende kommt mir der antiintellektuelle Song dieser Punk-Band in den Sinn, aus der sich später die im ästhetischen Stahlbad gesalbte Formation Rammstein herausmendelte. In einem Lied auf der zum Ende der DDR erschienenen Amiga-LP hieß es: „Geh zurück in dein Buch / erzähl mir nichts (…)“ – so meine trügerische Erinnerung an die Wendezeit. Denn die zweite Zeile existiert offenbar nur in meiner Einbildung, wie ich bei einer Internetrecherche feststelle. Dabei realisiere ich, daß der anarchische wie flüchtige Geist dieser Zeit – eingefangen im Defa-Dokumentarfilm „flüstern & SCHREIEN“ – inzwischen abrufbar ist in der Mediathek der Bundeszentrale für politische Bildung: ein bis heute berührendes Zeitdokument, allein schon wegen des authentischen DDR-Kolorits.

Dieser satirische Roman spielt so wunderbar mit der Wirklichkeit, daß dem Leser beinahe schwindlig wird.

Doch die DDR existiert bis heute – und eigentlich müßte daher der Polit-Thriller „Hashtag #DDR“ von Holger Kreymeier die Spiegel-Bestseller-Liste anführen. Der ebenso spannende wie satirische Roman (Solibro Verlag) spielt in der Gegenwart – und zugleich so wunderbar mit der Wirklichkeit, daß dem Leser beinahe schwindlig wird. Allerdings nicht so sehr wie dem Youtuber Lonzo (eine an Rezo angelehnte Figur), der durch sein Video „Die Zerstörung der DDR“ für innerdeutsche Probleme sorgt und schließlich im Stasi-Auftrag mit K.o.-Tropfen außer Gefecht gesetzt wird. Sein Pendant, der im Jahr 2023 in Stasi-Untersuchungshaft sitzende oppositionelle Internet-Aktivist Perry, erklärt dem Vernehmer, daß Videos im Netz „moderner Widerstand“ seien. Darauf der Stasi-Mann: „Also auf die Straße zu gehen halten sie für altbacken?“ Antwort: „Was sollen wir denn tun, uns auf der Straße festkleben?“ Auch die zwischendurch eingestreuten Kommentierungen in Form fiktiver Twitter-User unterhalten trefflich, so daß der Leser automatisch schmunzeln muß, da die verschiedensten Charaktere erfrischend authentisch wirken – bis zum überraschenden Romanende durch die Erkenntnisse des Corona-Maßnahmenstaates in der DDR.


Abgelöst wird diese Plandemie-Wirtschaft im grandiosen Roman Viktor Jerofejews „Der große Gopnik“ (Matthes & Seitz Verlag) durch die global grassierende „Epidemie der Dummheit“ mit dem Epizentrum Rußland. Dabei ist dieses Opus – so Rüdiger von Fritsch, einst Botschafter Deutschlands in Moskau – „der Schlüssel“ zum Verständnis Rußlands und Wladimir Putins. Was würde zu dieser Epidemie der Ethikrat sagen? Mein Gedanke kennt nur eine Formel: „Führt zum Styx / Alena Buyx.“ Anders läßt sich dieser Gesprächsfluß des Grauens, der mit salvierendem Gesäusel die Direktiven des neuen Totalitarismus verkündet, nicht auf den Punkt bringen.