Wer solche Eltern hat, braucht keine Feinde mehr! Einen prügelnden Trinker, einen Geschichtenerzähler, „einen Lügner und Hurenbock, einen Rechthaber, Miesmacher, Hypochonder und einen ewigen Blaumacher“ nennt Nelly, die Erzählerin von „Risse“, ihren Vater, den „schönen Egon“, der freilich auch ein Mann ist, den die Frauen lieben. Jedenfalls hat er Nellys Mutter, die sogar noch schlimmer ist als ihr Vater, ganz schön den Kopf verdreht. Damals, als alles begann: „Meine Mutter hatte ihm regelrecht nachgestellt, ihn wollte sie haben und keinen anderen. Sie bekam mich, ihre Tochter, da war sie siebzehn, mein Vater war zehn Jahre älter, Aushilfskellner, aber er konnte Ölbilder malen, Schiffe auf tosendem Meer, und manchmal verkaufte er eins.“ Aber man kann es ahnen: Statt eines Dauerschwebens auf Wolke sieben gibt es bald Zerwürfnisse, Zwist und Scherben.
Deprimierende Episoden einer freudlosen Kindheit in der DDR
Kaputte Familien, Eltern, die ihrem Erziehungsauftrag nicht gerecht werden, weil sie selbst nicht in einer heilen Familie aufgewachsen sind: für viele ist das einer der Hauptgründe für die wachsende Zahl von Jugendlichen mit psychischen Problemen. Ein Paradebeispiel dafür, wie Kinder unter dysfunktionalen Erziehungsberechtigten leiden, ist das von der Schriftstellerin Angelika Klüssendorf im Jahre 2011 für ihren gleichnamigen Roman erfundene „Mädchen“, ein fiktionalisiertes Spiegelbild ihrer selbst.
Locker aneinandergereiht sind auch in diesem Ergänzungsband zu „Das Mädchen“ Schockmomente und deprimierende Episoden einer freudlosen Kindheit in der DDR: Die ersten Jahre wird das Kind von seiner Großmutter erzogen, die Eltern sind beide in Haft, angeblich wegen Spionage. Mit etwa zehn Jahren kommt Nelly zu ihrem Vater, der auf Usedom zusammen mit seiner zweiten Frau eine Tanzgaststätte betreibt. Als sie eine etwas ältere Freundin, Evi, mit nach Hause bringt, wird diese von Egon mißbraucht. Später wechselt sie – der Leser von „Das Mädchen“ weiß das bereits – zwischen den getrennt lebenden Elternteilen hin und her. Sie kommt damit jedesmal vom Regen in die Traufe.
Die Mutter arbeitet als Kellnerin, liegt oft träge im Bett, überläßt Nelly und ihre kleine Schwester sich selbst. Sie müssen sich um den Haushalt kümmern. Und als Nelly sich nach einer Besorgung ein Fünfzigpfennigstück unter den Nagel reißt, bringt ihre Mutter es fertig, ihre kleine Schwester mit Nadeln zu piesacken, um ihr ein Geständnis abzupressen. Nelly hatte ihre Mutter zuvor erfolgreich belogen. Als diese herausbekommt, daß das Mädchen im Konsum, dem DDR-Supermarkt, stiehlt, engagiert sie sie für Auftragsraubzüge.
Nicht besser ergeht es Nelly bei ihrem Vater, bei dem sie schließlich, während die Schwester in der Obhut der Mutter verbleibt, dauerhaft lebt. Ihm wurde bei der Scheidung das Sorgerecht zugesprochen. Aus Selbstekel beginnt er jedes Jahr am Karfreitag Selbstabschaffungspläne in die Tat umzusetzen. Das Kapitel „Hölle oder Himmel“, zusammen mit „Eine Krankheit“ das beste in dem Buch, schildert seine Vorbereitungen für eine Gasvergiftung am heimischen Herd: Nelly muß ihrem Vater erst beim gründlichen Wohnungsputz helfen und dabei, eine Matratze und einen Plattenspieler an den Gasofen zu tragen. Gläser und eine Flasche Weinbrand werden um die Matratze gruppiert, um den Abschied möglichst erfreulich zu gestalten. Schließlich landet Nelly im Kinderheim, eigentlich einer sozialistischen Besserungsanstalt, aus der sie aber aus Sehnsucht nach ihrer kleinen Schwester immer wieder ausbüxt, was sie in Konflikt mit der Polizei bringt. „Unsere Gebundenheit an Haß, Selbsthaß, Mißtrauen läßt nur schmerzhafte Wiederholungen zu“, charakterisiert die Autorin mit der für sie typischen herben Sprache die Zeit im Kinderheim.
Man kann das alles nicht glauben, was man liest. Jedes Kapitel endet mit kursiv gedruckten Einlassungen einer Meta-Erzählerin, die manches bestätigt, was im Text steht, von anderem eine abweichende Version der Geschehnisse bereithält. Auch zu dem ersten Buch der Romanreihe, „Das Mädchen“, bestehen Widersprüche: die literarische Entsprechung der prekariatsbedingten Risse, denen das Buch seinen Titel verdankt.
Was ist Dichtung, was Wahrheit? Das muß in Klüssendorfs autofiktionalen Büchern mit Realitätsanleihen nicht mit letzter Gültigkeit enthüllt werden, schließlich kommen sie als Romane in den Buchhandel. Die Autorin hat ein Erfolgsrezept entwickelt, nach dem sie inzwischen ihr viertes Buch zubereitet hat. Auf „Das Mädchen“ folgten „April“ (2014) und „Jahre später“ (2018). Allesamt sind sie Romane in Anekdoten. Allesamt waren sie wie im vergangenen Jahr auch ihr neues Buch nominiert für den Deutschen Buchpreis; die ersten beiden Bände schafften es sogar in die Endausscheidung – eine beeindruckende Erfolgsserie.
Distanzierte Chronistin des ostdeutschen Prekariats
Mit „Risse“ hat Angelika Klüssendorf strenggenommen ihr erstes Buch der „Mädchen“-Reihe noch einmal geschrieben. Sie geht noch weiter zurück in die Kindheit ihres fiktionalen Erinnerungssubjekts, füllt Lücken, die damals im ersten Band offen geblieben sind. So entsteht für alle Leser, die die ersten drei Bücher der Reihe kennen, ein noch kompletteres Bild der traurigen, aber dennoch immer kämpferischen Heldin, die mit einem Zitat aus dem Buch eine „hochmütige Trostlosigkeit“ verkörpert. Neueinsteiger bekommen dennoch nicht das Gefühl, daß ihnen irgendwas fehlt.
Stets bleibt die Chronistin des ostdeutschen Prekariats kühl-distanziert und summarisch in der Darstellung, wechselt auch mal überraschend die Perspektive und bleibt nichtsdestoweniger nah an der Hauptfigur, die sich später den Namen April (daher der Name des Romans von 2014) zulegen und dann weiter durch die Wirrnisse und Unwägbarkeiten des Lebens taumeln wird, das sie am belastenden Erbe einer total verkorksten Kindheit schwer tragen läßt. Kämpferisch und trotzig zu bleiben auch unter widrigen Umständen, das ist die autobiographisch bedingte, immer wieder erneuerte Botschaft, die die in Leipzig aufgewachsene Autorin vermitteln möchte. Ein Buch also zum Dauerthema Resilienz. Möge es den vielen Beschädigten der Generation Schneeflocke helfen, robuster zu werden. Sie haben’s nötig.
Angelika Klüssendorf: Risse. Piper Verlag, München 2023, gebunden, 176 Seiten, 22 Euro