© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/24 / 05. April 2024

„Ghettoisierung“ einer Inselidylle
Angst in Berlin-Charlottenburg: 1.000 Flüchtlinge treffen auf der Mierendorffinsel auf 15.000 Einwohner
Martina Meckelein

Ein Gruppenkraftwagen der Polizei steht an der Sömmeringstraße Ecke Quedlinburger Straße. Vor dem Eingang eines riesigen Neubaus stehen an die hundert Menschen unter Regenschirmen – und warten. „Das sieht hier aus wie bei einer normalen Wohnungsbesichtigung in Berlin“, frotzelt eine Frau. Doch so weit ist nicht einmal Berlin heruntergekommen, daß Hausbesichtigungen nur noch unter Polizeischutz möglich wären. Nein, diesmal geht es darum, Nachbarn zu beruhigen. Menschen auf der Mierendorffinsel in Berlin-Charlottenburg, die empört sind. Sie sind sauer, weil im Umkreis von 100 Metern über 1.000 „geflüchtete Menschen“ und Asylbewerber untergebracht werden. Der Eklat ist perfekt. Drinnen, im überfüllten Eingang des Hauses hält gerade Bezirksbürgermeisterin Kirstin Bauch (Grüne) eine Rede. „Ich bin überzeugt, wenn es irgendwo klappt, dann hier“, frohlockt sie. Tag der offenen Tür in Berlins neustem modularen Wohngebäude, einer sogenannten MUF. Platz für 560 „Geflüchtete“. An diesem Freitag dürfen die Anwohner den Ort man in Augenschein nehmen, schauen, wie es sich als Geflüchteter so in Berlin lebt.

„Wer organisiert denn solch eine Scheiße“, ärgert sich ein wartender Herr. „Warum können wir uns denn jetzt nicht die Zimmer selbst anschauen? Warum werden wir hier in Gruppen rumgeführt?“ Eine Frau, die neben ihm steht, mutmaßt: „Die sind hier mit der Organisation total überfordert, wenn das so weitergeht, wenn hier erst einmal 600 Leute wohnen, dann gute Nacht!“ 

Kosten in Höhe von 50 Euro pro Tag und Asylbewerber im Plaza Inn

In dem Haus mit sieben Geschossen und 147 Wohneinheiten gibt es acht Aufgänge mit Fahrstühlen. Zugegeben, im Brandfall nicht zu benutzen. Alles zwar nicht behindertengerecht, aber barrierearm. Eine Anwohnerin meint verärgert: „Ist doch totaler Blödsinn, dieses barrierearme Gerede. Spätestens an der U-Bahnhaltestelle am Mierendorffplatz ist Ende Gelände. Da gibt es nämlich gar keinen Aufzug und keine Rolltreppe.“

 „Das hier ist das High-End-Segment, das wir zu bieten haben“, sagt zum Ende des Rundgangs durchs Haus stolz eine Mitarbeiterin des LAF, des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten. „So teuer werden wir nicht mehr bauen können. Wir hoffen, daß das von den Bewohnern anerkannt wird.“ Noch wohnt niemand darin, Bezugsmonat ist nun im April. Im Erdgeschoß stehen noch nicht angeschlossene in einem Raum gestapelte Electrolux-Waschmaschinen.

 Schräg gegenüber, im Plaza Inn (vormals Econtel Hotel), dürfen die Nachbarn nichts inspizieren. Das Hotel ist eine Notunterkunft für Geflüchtete. „Um deren Obdachlosigkeit zu vermeiden“, heißt es offiziell. 476 Plätze bietet das Hotel. Das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten mit seinen 600 Mitarbeitern  hat es angemietet. Kosten: Geheime Kommandosache! „Verschlußsache nur für den Dienstgebrauch“, erklärte die Präsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin gegenüber dem CDU-Abgeordneten Stefan Häntsch das Schweigen des Senats ob der Kosten. Die JUNGE FREIHEIT fragte beim LAF nach. „Zu den Kosten pro Tag kann ich Ihnen sagen, daß die Unterbringung cirka 50 Euro pro Person pro Tag beträgt“, so Sascha Langenbach, Pressesprecher des LAF, das ebenfalls auf der Mierendorffinsel residiert. Aktuell, so Langenbach, wohnen 466 Personen in dem Objekt an der Sömmeringstraße. Hauptherkunftsländer seien Syrien, Afghanistan, Georgien. „Es handelt sich um eine provisorische, temporäre Aufnahmeeinrichtung während des Asylprozesses“, erklärt der Pressesprecher.

 „Da gehen andauernd die Rauchmelder los“, ärgert sich ein Anwohner. „Das liegt daran, daß die dort in den Zimmern kochen, obwohl das verboten ist. Und überhaupt kriegen die drei Mahlzeiten am Tag.“ Ist das nur böse Unterstellung? Die junge freiheit wollte es genauer wissen. „Nach den gesetzlichen Bestimmungen ist in dieser Zeit für die Antragstellenden ein Empfang von Sachleistungen vorgesehen, also ein Catering“, so Langenbach. „Dieses entspricht den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. Aufgrund der zahlreichen muslimischen Menschen in der Unterkunft wird zum Beispiel auf Schweinefleisch verzichtet. Das Kochen in der Unterkunft ist nicht gestattet. Ein Verstoß würde mit einem Hausverbot geahndet.“ Ob es zu diesen Maßregeln gekommen ist? Wir wissen es nicht. Jedenfalls läuft der Vertrag noch bis Juni 2024 einschließlich. Langenbach: „Inwieweit weitere Vertragsverhandlungen mit den Hostelbetreibern in Berlin stattfinden werden, kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen.“

 Zu wie vielen Notarzt- und Feuerwehreinsätzen es bisher kam, weiß Langenbach nicht. Allerdings fühlen sich Anwohner unsicher. „Ich schaute vergangene Woche abends über den Balkon auf den gegenüberliegenden Park und ich war erschrocken“, berichtet eine Frau. „Da sind draußen nur, und ich meine wirklich ausschließlich, Männer. Ich habe da als Frau Angst langzugehen. Ich bleibe abends besser zu Hause.“ Ab 21 Uhr sei hier schon seit langem eher Arabisch oder Türkisch die Umgangssprache, erklärt ein Anwohner.

 „Die Insel, so bezeichnen die alteingesessenen Mierendorffer ihren Kiez, wird begrenzt im Westen und Süden von der Spree, im Osten vom Charlottenburger Verbindungskanal und im Norden vom Westhafenkanal. In dieser sogenannten Bezirksregion leben auf 1.895 Quadratkilometern cirka 15.000 Menschen, allein 27,1 Prozent sind ausländische Staatsbürger. Angaben des Vereins DorfWerkstadt zufolge hatten bereits vor zehn Jahren 41 Prozent der Bewohner einen Migrationshintergrund. Besonders in der Altersgruppe der unter 18jährigen bestand vor knapp zehn Jahren bereits ein Migrantenanteil von 66,1 Prozent der Gesamtbevölkerung – Tendenz steigend. 

Im Foyer der noch leeren MUF haben Initiativen kleine Tische aufgebaut. Sie suchen Ehrenämtler, die sich engagieren in der Flüchtlingshilfe. Eine Mitarbeiterin, auf die Angst der Frauen aus der Nachbarschaft angesprochen, antwortet lakonisch: „Die meisten Vergewaltigungen passieren im familiären Umfeld.“ Einen Stand im Foyer hat auch die DorfWerkstadt. Er hatte sich ungewohnt kritisch Ende vergangenen Jahres zur Unterbringung auf der Mierendorffinsel in einem offenen Brief geäußert. Rainer Leppin, er ist Vorsitzender des Vorstandes und Stephan Kopschinski kritisierten damals vor der Presse den Einzug von Geflüchteten in das Charlottenburger Hotel. „Auf der gegenüberliegenden Straßenseite des jetzt mit Geflüchteten belegten Hotels wird im März 2024 eine Modulare Unterkunft für Flüchtlinge mit weiteren 570 Geflüchteten belegt. Dies widerspricht dem vom Senat beschlossenen Programm MUF 2.0, wonach diese Gebäude mit maximal 450 Menschen belegt werden sollen.“ Insgesamt entstehe somit auf engstem Raum ein Ballungszentrum von mehr als 1. 000 Geflüchteten. Daß dem LAF diese Situation nicht bekannt gewesen sei, sei angesichts des Standortes der Behörde, der sich knapp 300 Meter entfernt von den beiden Geflüchteten-Einheiten befinde, nicht vorstellbar. Der Verein forderte, daß es nun eines umfangreichen Programms bedürfe, um einer „Ghettoisierung“ und einer konfrontativen Begegnung „mit den Anwohner:innen entgegenzuwirken.“

 Auch der Berliner CDU-Abgeordnete Stefan Häntsch kritisierte in einem Flyer, den er an einem Parteistand den Anwohnern auf der Straße Anfang März überreichte, die fehlende Information der Nachbarschaft durch die Stadt. Während der MUF-Neubau bereits seit 2016 diskutiert wurde, sei „vor dem Hotelbezug leider keine ausreichende Transparenz hergestellt“ worden, sagt er. Häntsch konnte, sagt er, immerhin in Erfahrung bringen, daß es im November 2023 einen Infotermin im Hotel mit lokalen Initiativen und Kooperationspartnern gab. Unklar ist, warum die Anwohner außen vor blieben. Sicher ist, daß der Mietvertrag für das Hotel noch bis Juni 2024 einschließlich läuft. „Inwieweit weitere Vertragsverhandlungen mit den Hostelbetreibern in Berlin stattfinden werden, kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen“, so Langenbach vom Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten Berlin auf Nachfrage dieser Zeitung. So wie der Senat allerdings die Unterbringungssituation sieht, scheint eine Auflösung des Mietvertrags in weite Ferne zu rücken.

Besondere Probleme schaffen darüber hinaus die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Im Jahr 2023 erreichten 3.100 von ihnen die Bundeshauptstadt, sie stammen zum großen Teil aus Syrien, Afghanistan und der Ukraine. 90 Prozent von ihnen sind junge Männer. „Auch in diesem Jahr rechnen wir wieder mit etwa 3.000 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen“, zitiert die Berliner Morgenpost den Jugendstaatssekretär Falko Liecke (CDU), als er am Montag vergangener Woche eine Unterkunft für derartige Asylbewerber in Lichtenberg besuchte. In zwei Jahren, so die Zeitung, brachte Berlin 6.000 junge Menschen unter. „Doch das sei nicht ausreichend“, so Liecke. 



Flüchtlingsunterkünfte als Hotspot der Gewalt  

Derweil prüft das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten schon wieder einen neuen Standort für Asylsuchende. Diesmal in Friedrichshain-Kreuzberg. Platz für bis zu 900 Menschen könnte das Bürogebäude an der Hasenheide bieten. Auf zehn Geschosse verteilen sich 32.000 Quadratmeter. Ein Ankunftszentrum wäre möglich, die Nutzung nach Umbau ab 2025. Aber das ist nicht alles. Am Dienstag gab Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) bekannt, daß in neun Berliner Bezirken 16 neue Container-Unterkünfte mit bis zu 6.130 Plätzen beschlossen worden seien. Die Unterkünfte hätten zwischen 150 und 620 Plätze. Auf der Homepage der Stadt Berlin hieß es darüber hinaus: „Das Ziel sei, Geflüchtete dezentral unterzubringen.“ Wegner wies allerdings auf die aktuelle Entwicklung hin, die das erschwere: „Die Zahlen gehen wieder hoch.“ Auch deswegen würden die 16 bisher vorgesehenen Standorten nicht die letzten sein, sagte er mit Blick auf die aktuellen Beschlüsse. 

Alarmierende Zahlen meldete am vergangenen Mittwoch die Berliner Innenbehörde. 2023 wurden 140.620 Tatverdächtige registriert, davon 43,2 Prozent nichtdeutsche Tatverdächtige (plus 1,3 Prozent). Sexualstraftaten steigen von 6.900 auf über 7.200 Fälle. Knapp 43 Prozent der Täter bei Gewaltdelikten seien „Ausländer“ gewesen, im Vorjahr waren es 40,5 Prozent. Ein Großteil der Körperverletzungen finde in Flüchtlingsunterkünften statt, wo Konflikte über Herkunft oder Religion auf engem Raum entstehen, zitiert die Boulevardzeitung B.Z. Innensenatorin Iris Spranger (SPD).

Fotos: Neubau der Modularen Unterkunft für Flüchtlinge (MUF) auf der Charlottenburger Mierendorffinsel: Platz für 550 Migranten; R. Leppin (r.)  und S. Kopschinski: Warnen vor „Ghettoisierung“, Hotel mit derzeit 466 Asylbewebern: Schräg gegenüber die MUF ;