© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/24 / 05. April 2024

Aktuelle Gemeinschaftsdiagnose der Wirtschaftsinstitute
Die Zahlen lügen nicht
Reiner Osbild

Daß die Gemeinschaftsdiagnose (GD) von sechs Wirtschaftsinstituten ihre Wachstumsprognose für Deutschland von 1,3 auf 0,1 Prozent eingedampft hat, überrascht nicht. Dabei sind die Daten der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage nicht schlecht: Dank sich abschwächender Inflation führen die kräftigen Lohnsteigerungen der jüngsten Vergangenheit zu mehr Kaufkraft und höherem Konsum; zudem wächst die Weltproduktion um 2,5 Prozent. Doch die Exporteure können davon nicht profitieren, da sie unter hohen Energiepreisen leiden. Damit sind wir schon bei den strukturellen Problemen, die sich etwa in der sinkenden Zahl der Arbeitsstunden widerspiegeln. Ausführlich geht die GD der Frage nach, ob eine Lockerung der Schuldenbremse dringend benötigte öffentliche Infrastrukturmaßnahmen ermöglichen könne.

Zur Erinnerung: Die Höhe der Schulden, die nicht auf dem Ausgleich von Konjunkturschwankungen basieren, soll maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen, was knapp 15 Milliarden Euro wären. Doch die Begründung, nur mit einer Aufweichung seien notwendige Investitionen finanzierbar, hält dem Realitätscheck nicht stand. Seit 1995 liegt die Bruttoinvestitionsquote des Staates unter drei Prozent des BIP. Getätigt wurden jedoch fast nur Ersatz­investitionen, wie etwa die Ausbesserung von Straßen und öffentlichen Gebäuden. Die Nettoinvestitionen, die sozusagen obendrauf kommen, verharrten permanent nahe der Null-Linie, waren also minimal: Es sind kaum neue Bahnstrecken, Straßen, Glasfaserverbindungen hinzugekommen. Das ist verwunderlich, wenn man die Einnahmenseite des Staates betrachtet. Die Steuereinnahmen betrugen schon im Jahr 2000 satte 467 Milliarden Euro; bis Ende dieses Jahres dürften sie sich auf eine Billion Euro mehr als verdoppelt haben.

Gleiches gilt für die öffentlichen Schulden, die von 1,2 Billionen Euro auf fast 2,5 Billionen Euro hochschnellten. Der Staat hat also kein Finanzierungs-, sondern ein Ausgabenproblem. Offensichtlich werden seit Jahrzehnten systematisch die falschen Prioritäten gesetzt. Die grundsätzliche Frage lautet: Setzt die Politik das ihr anvertraute Steuergeld gemeinwohlorientiert ein, um Wachstum und Wohlstand zu fördern, oder – das ist die Aussage der Neuen Politischen Ökonomie – sind die Politiker hauptsächlich eigennützig an ihrer Wiederwahl interessiert? Sieht man sich die hohe Dynamik der Sozialleistungen an – auch diese findet in der GD ihre Bestätigung –, dann spricht dies für die zweite Variante. Daher ist zu befürchten, daß sich die Politiker, wenn sie noch höhere Schulden machen dürfen, noch mehr soziale Wohltaten unters Volk bringen – schließlich sind bald wieder Wahlen.

Und sollten die riesigen Investitionen rund um „Dekarbonisierung“ und „Klimaschutz“ gemeint sein, so ist der Lockerung der Schuldenbremse noch entschiedener entgegenzutreten. Denn diese ideologischen „Investitionen“ erbringen logisch zwingend eine negative Rendite, da der Rest der Welt nicht mitzieht: Deutschland erreicht „seine“ Klimaziele qua Energieverteuerung und Deindustrialisierung, doch dem Weltklima ist es egal. Der folgenden Generation drohen riesige Investitionsruinen, plus üppige Zinslasten, was die Aufräumarbeiten der ökogrünen Wahnideen unbezahlbar zu machen droht. Politiker, die zu Lasten des Allgemeinwohls ihre politische Ideologie durchdrücken, befeuern die Demokratieverdrossenheit.