Dreimal bereits hatten die USA seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober durch ihre Veto-Macht im UN-Sicherheitsrat Resolutionen blockiert, die zu einem Waffenstillstand im Gaza-Krieg zwischen Israel und der Hamas aufriefen. Am 25. März aber blieb der Arm der amerikanischen Botschafterin unten, als der sitzungsleitende Präsident nach den Gegenstimmen fragte: Resolution 2728, die eine „sofortige Waffenruhe“ und einen irgendwann folgenden „anhaltenden Waffenstillstand“ fordert, passierte mit 14 Ja-Stimmen bei Washingtons Enthaltung. Die Freilassung der noch immer – teils lebenden, teils toten – 134 Geiseln wird in der Resolution nicht zur unabdingbaren Voraussetzung gemacht. Für Israel ist das ein schwerer Rückschlag: „Die USA werfen uns den Wölfen zum Fraß vor“, kommentierte eine israelische Zeitung.
Dabei kommt der Vorgang weniger überraschend, als es vielfach dargestellt wird: Washington hat es schon immer verstanden, auch im Verhältnis zu Israel seine eigenen Interessen durchzusetzen. Einige historische Beispiele: Nachdem Israel 1956 in Abstimmung mit Frankreich und Großbritannien im Sinai einmarschiert war, erzwangen die USA den Rückzug der israelischen Armee. 1973 setzte Washington Israel unter Druck, Ägyptens Dritte Armee nicht zu vernichten. Unvergessen ist auch, daß die Obama-Administration 2016 im UN-Sicherheitsrat eine Resolution passieren ließ, die Jerusalems Siedlungspolitik massiv kritisierte.
Ursache für den jetzigen Veto-Verzicht ist ein Gemisch verschiedener Faktoren, von denen zwei hervorzuheben sind. Erstens: Joe Biden befindet sich im Wahlkampf. Zwar gilt der Präsident den Israelis als guter Freund: Positiv haben sie in Erinnerung, daß er zu Kriegsbeginn selbst ins Land reiste und zur Abschreckung der libanesischen Hisbollah-Miliz zwei Flugzeugträger ins östliche Mittelmeer verlegte. Doch in der jüngeren Generation seiner Partei sind israelkritische bis -feindliche Töne verbreitet – nicht zuletzt unter dem Einfluß postkolonialer Theoriebildung. Biden will den linksradikalen Flügel seiner Partei nicht verlieren – und auch nicht die migrantischen Communities.
Zweitens: Nach wie vor wird internationale Politik maßgeblich von macht-, militär- und geostrategischen sowie von wirtschaftlichen Interessen beeinflußt. Im Kalten Krieg ließ sich Washington vor allem vom Konkurrenzkampf mit der Sowjetunion leiten. Darin war Israel zwar einerseits ein Vorposten des Westens im Nahen Osten, andererseits aber stets auch eine strategische Belastung: Die Allianz mit dem Judenstaat störte Washingtons Beziehungen in die arabische Welt und drohte die Araber in Richtung Moskau zu drücken. Die Sowjetunion existiert nicht mehr, an der Grundkonstellation aber hat sich wenig geändert: Angesichts der Kriegsbilder aus dem Gazastreifen gefährdet Washingtons Unterstützung für Israel seine Position nicht nur in der arabischen Welt, sondern im gesamten „Globalen Süden“, in dem eine starke Identifizierung mit den Palästinensern herrscht.
Denn die internationale Konkurrenz – namentlich China und Rußland – schläft nicht: Beide Staaten sind darum bemüht, aus der Lage in Gaza geostrategisches Kapital zu schlagen. Moskau inszenierte sich jüngst als Gastgeber für Versöhnungsgespräche zwischen den verfeindeten Palästinenserparteien Fatah und Hamas. Außenminister Sergej Lawrow sprach den Ländern des „Globalen Südens“ aus der Seele, als er die angeblichen „Doppelstandards“ des Westens im Umgang mit Kriegen anprangerte. Das zielte natürlich nicht zuletzt darauf ab, die Unterstützung für die Ukraine zu delegitimieren.
China schlägt in ähnliche Kerben, gebärdet sich erfolgreich als ehrlicher Makler im Nahen Osten. Peking ist im hohen Maße auf Öleinfuhren aus den arabischen Ländern angewiesen und hatte seine Einflußnahme in der Region bereits vor Ausbruch des Krieges intensiviert. Für Aufsehen sorgte vor allem die erfolgreiche Vermittlung für eine Annäherung zwischen den Erzfeinden Iran und Saudi-Arabien im März 2023. Im folgenden Herbst beteiligte sich Riad, traditionell stärkster arabischer Partner der USA in der Region, prompt zum zweiten Mal an einer gemeinsamen Militärübung mit China.
Noch hat Peking nicht dieselbe militär- und geostrategische Macht in Nahost wie die USA. Trotzdem schrillen in Washington die Alarmglocken: „Wir befinden uns in einem Wettrennen darum, uns mit unseren regionalen Partnern in der Region zu integrieren, bevor China die Region völlig durchdringt“, hatte General Michael Kurilla, Kommandeur der US-Streitkräfte in Nahost, bereits vor einem Jahr gesagt. Der Gaza-Krieg machte diese Aufgabe nicht gerade leichter; der jetzige Veto-Verzicht ist in diesem Kontext zu sehen.
Beide Faktoren – die innenpolitischen und die geostrategischen Dynamiken – beeinflussen nicht nur die Positionierung der USA, sondern sämtlicher Länder des „liberalen Westens“. Sie erklären, warum sich Israel mittlerweile einem breiten Trend der Isolierung gegenübersieht: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron etwa, konfrontiert mit einer großen migrantischen Gesellschaft, setzt schon seit Monaten immer wieder äußert kritische Akzente. Und auch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock schlägt mit jedem weiteren ihrer vielen Nahost-Besuche immer distanziertere Töne gegenüber Israel an.
Für die Hamas läuft es damit nach Plan: Sie kann den Krieg nicht durch Sprengstoffwesten, Raketen und Kalaschnikows, sondern nur über internationalen Druck auf Israel gewinnen. Der Veto-Verzicht der USA hilft, Israels Militärkampagne moralisch weiter zu diskreditieren. Käme es nun zu einem dauerhaften Waffenstillstand, ohne daß die Hamas-Führung ausgeschaltet und weitere Bataillone zerstört sind, würde das aus israelischer Sicht einem Abbruch mitten im Krieg gleichkommen. Doch damit ist kurzfristig nicht zu rechnen: Unmittelbar nach der UN-Abstimmung relativierte Washington die Resolution bereits als „nicht bindend“. Auch die Waffenlieferungen gehen weiter. Bedeutet: Noch ziehen die USA die Daumenschrauben nicht weiter an.
Israels Premierminister Benjamin Netanjahu wiederum sieht sich zwar nicht nur international, sondern auch innenpolitisch rapide steigender Kritik ausgesetzt. Hinter dem Krieg steht aber nach wie vor der Großteil der traumatisierten israelischen Bevölkerung. Netanjahu muß sich vorwerfen lassen, daß er bislang keine definitive Strategie für die Zukunft des Gazastreifens vorgelegt hat und damit für zusätzliche Unruhe sorgt. Den Kampf gegen die Islamisten selbst aber würde auch ein alternativer Regierungschef kaum anders führen.