Die neun Atommächte sind ein exklusiver Club. Zwar können Atommächte auch Kriege verlieren, wie die USA in Vietnam und Afghanistan erfahren haben, aber das waren Niederlagen fern der Heimat, die Amerikas Regierungen nicht zur Verzweiflung bringen mußten. Zumindest im Rückblick kann man sich fragen, ob diese Kriege überhaupt hätten geführt werden sollen, denn wesentliche nationale Interessen der USA standen nicht auf dem Spiel, wie man am Ende der Militäreinsätze erkannte. Wenn Atommächte jemals in ernste Gefahr und ihre Machthaber an den Rand der Verzweiflung geraten würden, dann sollten ihre Gegner den Einsatz von Atomwaffen befürchten. Atomwaffen dienen der Absicherung von existentiellen Interessen.
Atommächte müssen nicht unbedingt über große Wirtschaftskraft verfügen. Wenn man sich die Rangreihe der Staaten nach Wirtschaftskraft ansieht, dann stehen Atommächte auf folgenden Rängen: eins USA, zwei China, fünf Indien, sechs Großbritannien, sieben Frankreich, elf Rußland, 29 Israel, 46 Pakistan, 136 Nordkorea. Allzu genau sollte man diese Angaben über die Wirtschaftskraft allerdings nicht nehmen. Je nach Quelle kommt etwa die russische Volkswirtschaft auf den 8. oder 11. Platz. Wenn man statt der Wirtschaftskraft die globalen Verteidigungshaushalte ansieht, dann ändert sich an der Rangreihe wenig.
Die Veränderungen sind auch leicht nachvollziehbar. Ein rüstungsbereites Land wie Rußland rückt von Platz acht oder elf auf Platz drei vor. Die bei der Kriegsvorbereitung zurückhaltenden Länder Japan und Deutschland stehen bei den Verteidigungshaushalten nur auf den Plätzen sieben und neun statt drei und vier. Israel rückt von Platz 29 auf 15 vor und Pakistan von 46 auf 24. Die Verteidigungshaushalte der Atommächte werden auch nicht von den Ausgaben für die Nuklearstreitkräfte dominiert. Für den britischen Fall – also eine Mittelmacht mit zuverlässigen Daten – gibt der Economist ein Fünftel der Verteidigungsausgaben an.
Offensichtlich erfreuen sich die westlichen Demokratien keines nuklearen Monopols. Nicht nur große und wirtschaftsstarke Länder, sondern auch kleine Länder können Atomwaffen und die dazugehörigen Trägersysteme – wie Flugzeuge, Raketen, U-Boote – erwerben. Israel und Nordkorea sind nach Fläche und Bevölkerungszahl klein. Pakistan und Nordkorea verfügen im Gegensatz zu Israel oder Indien über keine nennenswerte zivile Hochtechnologie. Indien, mehr noch Pakistan und Nord-Korea sind arm. In Nordkorea hat es sogar Hungersnöte gegeben, ohne daß dadurch die nukleare Aufrüstung aufgegeben wurde. Ob ein Land Atommacht wird oder nicht, ist eine Frage des Willens der Machthaber. Der Wille dazu entsteht durch Bedrohungsgefühle, die oft im Krieg entstehen.
Die erste Atommacht, die USA, entwickelte ihre Atomwaffen während des Zweiten Weltkrieges und konnte sie nach der deutschen Kapitulation nur noch gegen Japan einsetzen, in Hiroshima und Nagasaki. Sowjetrußland rivalisierte nach der deutschen Niederlage mit den USA um die Vorherrschaft in Europa und der Welt und benötigte deshalb Atomwaffen zur Abschreckung eines denkbaren amerikanischen Einsatzes dieser Waffen. Bei den Briten und Franzosen und vielleicht bei den Chinesen ganz am Anfang der Bemühungen um Nuklearwaffen darf man unterstellen, daß es auch um Anerkennung des Status als Großmacht ging. Im chinesischen Fall kam allerdings schon in den 1960er Jahren die Rivalität mit und die Bedrohung durch Sowjetrußland hinzu. Die israelischen Atomwaffen sind auf dem Hintergrund des Traumas der Judenvernichtung im Dritten Reich und in Anbetracht der langanhaltenden Bedrohung durch die arabischen Nachbarstaaten mit viel mehr Bevölkerung verständlich. Erst mehrere konventionelle Niederlagen haben manche arabischen Nachbarn Israels zum Frieden veranlaßt.
Im indischen Fall dürfte der diplomatische Prestige-Anspruch neben den Rivalitäten mit China und Pakistan eine Rolle gespielt haben. Für Pakistan war nach dem Verlust von Ostpakistan, heute Bangladesch, das nukleare Gleichgewicht des Schreckens gegenüber Indien eine Überlebensfrage geworden. Beide Staaten sind ja seit dem Ende der britischen Kolonialherrschaft vorwiegend wegen des Kaschmir-Problems miteinander verfeindet. Bei der jüngsten Atommacht Nordkorea ist klar, warum sich das kommunistische Regime bedroht fühlen muß. Am Ende des Koreakrieges hatte der Süden verglichen mit dem Norden nur zwei Trümpfe: die größere Bevölkerungszahl und den amerikanischen Schutz durch im Lande stationierte Truppen. Im Laufe der Jahrzehnte erlebte das kapitalistische Südkorea ein Wirtschaftswunder, so daß die Kluft zwischen der stagnierenden Wirtschaftskraft im Norden und der dynamisch wachsenden Wirtschaftskraft im Süden immer größer wurde. Auf Dauer läßt sich das Übergewicht des Südens nur durch die nordkoreanischen Atomwaffen einigermaßen ausgleichen.
Gegenwärtig sieht es so aus, als ob der Iran vielleicht die zehnte Atommacht werden könnte. Der schiitische Iran konkurriert mit den meist sunnitischen arabischen Ländern um die Führungsrolle im Nahen und Mittleren Osten, wobei die Unterstützung der Palästinenser gegen Israel eine wichtige Rolle bei der Auseinandersetzung um die Vorherrschaft im islamischen Raum spielt. Unter den global führenden Wirtschaftsmächten fällt auf, daß die Nummern drei und vier, Japan und Deutschland keine Atommächte sind. Das ist immer noch eine Folge des verlorenen Zweiten Weltkrieges. Denn sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch Japan waren entweder direkte Nachbarn der Sowjetunion wie Japan oder schlimmer noch durch schon im eigenen Land stationierte sowjetische Truppen bedroht.
Wenn die Bedrohungslage und die Wirtschaftskraft allein Determinanten von nuklearer Rüstung wären, dann hätten die Bundesrepublik und Japan noch vor Frankreich Atommächte werden müssen. Beide haben in Anbetracht des amerikanischen Schutzes und amerikanischer Truppen im eigenen Land auf den Versuch verzichtet, durch atomare Aufrüstung wieder Großmächte zu werden. Beide Länder haben außerdem Widerstand gegen das wiederholt vorgetragene amerikanische Ansinnen – „burden sharing“ genannt – geleistet, stattdessen im Rahmen ihrer amerikanisch geführten Bündnisse um so stärker in die konventionelle Rüstung zu investieren. Beide haben sich freiwillig in die amerikanische Einflußsphäre eingeordnet, die einmal treffend als „Empire by Invitation“ bezeichnet worden ist. Im Falle der Bundeswehr sind seit längerer Zeit Zweifel an der Einsatzfähigkeit erlaubt, weil sogar die Munitionsvorräte unter Kriegsbedingungen nur für Tage reichen. Das Nebeneinander von Atommächten und anderen Staaten, die durch Atommächte bedroht werden können, wirft das Problem der erweiterten Abschreckung auf, wobei eine Atommacht nicht nur Angriffe auf die Heimat, sondern auch Angriffe auf Verbündete abschrecken will.
Auch wenn es im Westen nicht politisch korrekt ist, in Einflußsphären zu denken, gehören die nichtnuklearen Verbündeten von Atommächten zu deren Einflußsphäre. Falls ein Land mit mehreren Nuklearmächten verbündet ist, wie Deutschland, muß man es der Einflußsphäre der mit Abstand mächtigsten Nuklearmacht zurechnen. Kleinere nukleare Arsenale, wie die britischen oder französischen und bisher auch noch die chinesischen, reichen für die erweiterte Abschreckung nicht aus. Vorerst sind nur die Amerikaner und Russen dazu in der Lage, erweiterte Abschreckung zu bieten oder auch aufzuerlegen, wie bei den Mitgliedern des Warschauer Paktes vor 1989. Solange es Atommächte und andere Staaten gibt, hängt diese Unterscheidung mit der Existenz von Einflußsphären zusammen. Große und zur erweiterten Abschreckung fähige Atommächte errichten Einflußsphären, die man bei freiwilliger Zugehörigkeit auch Schutzzonen nennen kann. Kleine Atommächte wollen die Zugehörigkeit zu einer Einflußsphäre verhindern oder sich zumindest innerhalb dieser Zonen eine Sonderrolle sichern. Nichtnukleare Mächte haben sich in nachrangigen Rollen in der Weltpolitik oft bequem eingerichtet, vor allem Demokratien wie Deutschland.
Mit dem Zerfall der Sowjetunion gab es zunächst mehrere Atommächte, wobei die kleineren Zerfallsprodukte oder Nachfolgestaaten, einschließlich der Ukraine, ihre Atomwaffen an Rußland ablieferten. Das wollten damals nicht nur die Russen, sondern auch die USA. Gemeinsames Ziel war, die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern. Nicht wirklich bedacht wurde, daß die willkommene nukleare Abrüstung der Ukraine spätere russische Übergriffe auf die Ukraine gewaltig erleichtern würde. Lange vor Putin hätte man wissen können, daß Versuche der Wiedererrichtung zerfallener Reiche historisch nicht ungewöhnlich sind.
Auch am anderen Ende des eurasischen Doppelkontinents, in Taiwan, hatte man nach der für Taiwan bedrohlichen Annäherung zwischen der Volksrepublik China und den USA ein Interesse an eigenen Atomwaffen entwickelt. Wenn Nordkorea das geschafft hat, kann kein Zweifel bestehen, daß das technologisch viel höher entwickelte und reichere Taiwan das ebenfalls hätte schaffen können. In Anbetracht des sich abzeichnenden Konflikts zwischen den Weltmächten China und USA müßten die Amerikaner ihre damalige Politik, die taiwanesischen Bemühungen um eigene Atomwaffen gebremst zu haben, eigentlich mit Bedauern und Reue betrachten.
Reife Nuklearmächte verfügen über eine Zweitschlagskapazität. Sie können, auch nachdem sie Opfer eines nuklearen Erstschlages geworden sind, noch mit Atomwaffen zurückschlagen, weil atomar bewaffnete Raketen auf U-Booten stationiert und kaum verwundbar sind und/oder mit Atombomben beladene Flugzeuge in der Luft sind und/oder atomar bewaffnete Raketen in gehärteten und gut verstreuten Silos versteckt sind. Im Extremfall kann der Zweitschlag aus dem Grabe des Opfers erfolgen, also nach Vernichtung der eigenen Heimat. Bei jungen, armen und technologisch schwach entwickelten Atommächten besteht die Gefahr, daß die Zweitschlagskapazität fragwürdig ist, wodurch dann Anreize zum Entwaffnungsschlag entstehen, also zum Ersteinsatz von Atomwaffen.
Selbst bei reifen Atommächten könnten einseitige und schnelle technologische Fortschritte derartige Anreize entstehen lassen. Die Stabilität des Gleichgewichts des Schreckens – nach dem Motto: Wer als erster zuschlägt, stirbt als zweiter – kann gefährdet sein. Deshalb ist das Ziel der Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen gut nachvollziehbar. Aber das ändert nichts daran, daß es Zielkonflikte gibt. Ist es wichtiger, Einflußsphären von atomar gerüsteten Staaten zu verhindern – beispielsweise Rußlands oder Chinas – oder die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern? Es ist weder offensichtlich, was hier die richtige Antwort ist, noch ob dieselbe Antwort für jeden denkbaren Konflikt gelten sollte.
Bisher ist die Weiterverbreitung von Atomwaffen vor allem unter reichen demokratischen Staaten, die meist Verbündete der USA sind, recht langsam verlaufen. Es ist ja viel billiger und bequemer, den Schutz des eigenen Landes den Amerikanern zu überlassen, als sich selbst darum zu kümmern. Die amerikanische Bereitschaft, anderen Staaten Schutz anzubieten und im Extremfall Trittbrettfahrer sein zu lassen, nimmt allerdings ab. Der ehemalige Präsident und Bewerber um die nächste amerikanische Präsidentschaft Trump ist nur der sichtbarste Repräsentant der abnehmenden Bereitschaft der USA, sich für eine Weltordnung und den Schutz der Verbündeten einzusetzen. Wenn es nach ihm geht, dann ist es bald zu Ende mit der Ausbeutung der Großen durch die Kleinen, der USA durch ihre Verbündeten. Wer es sich nicht nur bei der Ressourcenallokation bequem gemacht hat, also lieber in den Sozialstaat als in die Verteidigung investiert, sondern darüber hinaus noch das strategische Denken verlernt hat, wie Deutschland, könnte in einem Alptraum aufwachen.
Prof. Dr. Erich Weede, Jahrgang 1942, lehrte Soziologie an den Universitäten Köln und Bonn. Er gehörte zu den Gründungsmitglie- dern der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft. In der JF äußert er sich regelmäßig zu Fragen der Wirtschafts- und Geopolitik.