© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/24 / 29. März 2024

Ein Mann wie ein Vulkan
Zum 100. Geburtstag von Marlon Brando: Keiner brachte die Kinoleinwand so zum Beben wie der Jahrhundertschauspieler aus Nebraska
Dietmar Mehrens

Eigentlich gibt es ihn zweimal: als kaltschnäuzigen, lässigen Rebellen und als feistes, aufgedunsenes Schwergewicht. An welchen Marlon Brando man zuerst denkt, wenn man seinen Namen hört, hängt wohl maßgeblich davon ab, wann man zur Welt gekommen ist. Wer in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts schon ins Kino gehen konnte, dem hat sich der junge, drahtige Brando in gediegenen Schwarzweißfilmen wie „Der Wilde“ (1953) oder „Die Faust im Nacken“ (1954) ins Gedächtnis gebrannt. Wer in den Siebzigern jung war, der denkt wohl zuerst an die voluminösen Dickhäuter, die er als „Pate“ im gleichnamigen Mafia-Epos von Francis Ford Coppola verkörperte oder in der Literaturadaption „Apocalypse Now“ (1979), Coppolas Überführung von Joseph Conrads düsterer Erzählung „Herz der Finsternis“ in ein exzentrisches Vietnamkriegsepos. Als psychopathischer Colonel Kurtz, der im ostasiatischen Dschungel seine eigene kleine Terrorkolonie, die Indochina-Version des IS gleichsam, errichtet hat, ist Brando so schaurig-schrecklich, daß man die Szenen mit ihm nie mehr ganz abschütteln kann.

Am 3. April 1924 kam die Hollywood-Legende als Sohn eines Handlungsreisenden und einer Schauspielerin in Omaha (Nebraska) zur Welt, besuchte später die High School in Libertyville (Illinois) und fiel hier als dynamischer Footballspieler auf. Ab 1939 besuchte er die Shattuck Militärakademie in Faribault (Minnesota), die er nach zwei Jahren, schwer erziehbar, wie er zeit seines Lebens blieb, infolge eines Disziplinarverfahrens verlassen mußte. Nach verschiedenen Gelegenheitsarbeiten versuchte er sich auch kurz als Student der Kunstgeschichte und Romanistik.

1943 begann er nach dieser von schwankenden Entschlüssen geprägten Orientierungsphase schließlich in New York mit Schauspielunterricht. Seine Mentorin Stella Adler erkannte sein gewaltiges Potential. Brando wuchs hinein in eine Schauspielkunst im revolutionären Aufbruch. Das unter anderem von dem Film- und Theaterregisseur Elia Kazan 1947 gegründete Actors Studio unter der Leitung von Lee Strasberg, an dem er sich ausbilden ließ, prägte eine völlig neue Art von Schauspiel, bei der es auf Natürlichkeit und Emotionalität ankam, das sogenannte Method Acting. Statt sich eine Rolle wie eine Maske überzustülpen, sollte der Darsteller nach Charakterzügen einer Figur in sich selbst forschen und sie im Spiel zum Vorschein bringen. Die fiktive Figur war nicht mehr nur eine Rolle, sie wurde ein – mitunter bis dahin unentdeckter – Aspekt der Persönlichkeit ihres Darstellers. Die Technik führte zu Filmfiguren, wie man sie in solcher Authentizität und Eindringlichkeit zuvor nicht gekannt hatte, und Marlon Brando wurde zu ihrem Markenzeichen. Ihm eiferte vor allem der etwas jüngere James Dean („ … denn sie wissen nicht, was sie tun“) nach.

Als junger Wilder wurde er zum Idol seiner Generation

1944 debütierte der talentierte Mime mit dem Stück „I Remember Mama“ am Broadway. Dort schlüpfte er dann drei Jahre später auch erstmals in die Rolle des animalisch-rohen Stanley Kowalski in Tennessee Williams’ berühmtem Theaterstück „Endstation Sehnsucht“. Als Elia Kazan, der Regisseur des packenden Psychogramms über Dekadenz, sexuelle Hörigkeit und Gewalt, das Stück 1951 fürs Kino verfilmte, fiel die Entscheidung, Brando in der Rolle, in der er bereits auf der Bühne brilliert hatte, auch auf die Leinwand zu bringen, nicht sonderlich schwer. Es war der Beginn einer spektakulären Weltkarriere und das charismatische Großkaliber danach aus dem Hollywood-Kino nicht mehr wegzudenken.

Als verletzlicher jugendlicher Rebell, die Proll-Ausgabe sozusagen seines schmächtigeren, tragisch ums Leben gekommenen Kollegen James Dean, avancierte er in den fünfziger Jahren zum herausragendsten Charakterdarsteller der USA. Auf die Tennessee-Williams-Verfilmung folgte, wieder unter Kazans Regie, das wuchtige Revolutionsdrama „Viva Zapata!“ (1952), in dem Brando den mexikanischen Widerstandskämpfer Emiliano Zapata verkörperte und sehr glaubhaft dessen Wandlung vom einfachen Bauern zum kompromißlosen Revolutionsführer. In der Shakespeare-Verfilmung „Julius Caesar“ (1953) von Joseph Mankiewicz spielte er den aufstrebenden Cäsar-Erben Marcus Antonius.

Charakteristisch war seine Rolle in dem Halbstarken-Porträt „Der Wilde“. Als mißverstandener Lotterbube und Anführer einer wilden Rockerbande, die eine Kleinstadt terrorisiert, brillierte er ebenso wie in Elia Kazans „Die Faust im Nacken“, einer packenden Milieustudie, die acht Oscars gewann. Einer davon ging nach seiner bereits vierten Nominierung endlich auch an Brando. Er spielt Terry Malloy, einen ehemaligen Boxer, der zwischen den Fronten eines Machtkampfes zwischen Hafenarbeitern und Gewerkschaft zerrieben wird. 

Als junger Wilder mit schleppender Sprechweise, hinter dessen Fassade gleichgültiger Lässigkeit sich eine große Verletzlichkeit oder mühsam im Zaum gehaltene Aggression verbirgt, die eruptiv hervorbrechen kann wie bei einem Vulkan, wurde der kometenhaft in den Filmolymp Aufgestiegene in den fünfziger Jahren zum Idol seiner Generation. Das bewegende Liebesdrama „Sayonara“ (1957) über die unmögliche Liebe zwischen einem Major der US-Armee und einer japanischen Schauspielerin zollte Brandos Image als angehimmeltem Objekt der Begierde Tribut und zeigte ihn in einer klassisch romantischen Rolle. Bei dem Western „Der Besessene“ (1961) traute er sich sogar, die Regie zu übernehmen, nachdem es zu Differenzen mit Regisseur Stanley Kubrick gekommen war, einem Dickschädel wie Brando selbst.

Seinen nachhaltigsten Leinwandauftritt in den Sechzigern hatte der Egozentriker aber in dem farbenprächtigen Seefahrerdrama „Meuterei auf der Bounty“ (1962), und das nicht nur wegen der monumentalen drei Stunden Spieldauer. Brando verkörperte Fletcher Christian, den unbeugsamen Anführer meuternder Matrosen. Unvergessen und von ikonischer Kraft sind die Szenen, in denen die Seeleute auf Tahiti, Jahre vor der großen Hippie-Revolte, die Kunst des Aussteigens und des Zivilisationsverzichts vorexerzierten. Wieder wurde Brando zur Symbolfigur eines Trends. Auch als Privatmann hatte der Mime für den exotischen Schauplatz Feuer gefangen: 1966 erwarb er die Insel Tetiaroa in der Südsee und hatte sich damit nun sein eigenes, ganz persönliches Exil geschaffen, das er ausgiebig für die dringend benötigten Rückzüge vom Showgeschäft nutzte, das der notorische Skeptiker immer kritischer sah. Seine Popularität machte dem zum Exzeß neigenden Darsteller zu schaffen. Auch beim Dreh von Charlie Chaplins Komödie „Die Gräfin von Hongkong“ (1966) mit Filmpartnerin Sophia Loren kam es wieder zu Spannungen mit dem sperrigen Star. In dem aufwühlenden Bürgerrechtsdrama „Ein Mann wird gejagt“ (1966) spielte Brando an der Seite von Jane Fonda und Robert Redford – ein Stelldichein des New Hollywood.

Er verachtete das oberflächliche Getue der Filmbranche

In den Siebzigern begann die Zeit der sorgsam ausgewählten Avantgarde-Rollen. Mit fast jeder von ihnen schrieb der Jahrhundertschauspieler Filmgeschichte, positiv mit dem „Paten“, der ihm seinen zweiten Oscar einbrachte, und mit „Apocalypse Now“, der mitten in die Zeit der kritischen Aufarbeitung des Vietnamkriegs fiel und beim Publikum einschlug wie eine der vielen Napalmbomben, die im Film explodieren, negativ mit Bernardo Bertoluccis „Der letzte Tango in Paris“ (1972), einer Art Oswalt-Kolle-Film für Intellektuelle, zeittypisch mit Sex aufgeladen, aber ohne jeden sittlichen Nährwert und fast ohne Handlung. Dafür war das Skandalpotential des als Kunst kaschierten Erotikfilms beträchtlich. Und auch Arthur Penns „Duell am Missouri“ (1976), wie die meisten Western der Siebziger ein Spiel mit den Konventionen des Genres, blieb im Gedächtnis. Das lag aber nicht an Brando allein, der hier den bösen Schurken gab. Sein Gegenspieler war nämlich der zu diesem Zeitpunkt als einer der angesagtesten Darsteller seiner Generation in Brandos Fußstapfen tretende Jack Nicholson.

In den Achtzigern zog sich der als schwierig und unangepaßt geltende achtfache Vater weitgehend aus dem Filmgeschäft zurück. Er engagierte sich lieber für Bürgerrechte. Unter dem Titel „Brando: Songs My Mother Taught Me“ veröffentlichte er 1994 seine Memoiren. 

Auch in den Neunzigern sah man den guten Freund von Harry Belafonte nur sporadisch auf der Leinwand. Seine letzten Rollen waren zumeist kurze, teilweise augenzwinkernde Gastauftritte wie in „Freshman“ (1990), wo er eine leider oft übersehene witzige Persiflage auf sich selbst in der Rolle des „Paten“ ablieferte. In der Komödie, bei der auch Maximilian Schell mitwirkte, geht es um ein Nobelrestaurant, in dem verbotene Fleischgerichte serviert werden. Geschlachtet werden dafür Tiere, die unter Artenschutz stehen – Mafia mal anders.

Neben seiner letzten Kinorolle als Auftraggeber in dem klassischen Ganovenfilm „The Score“ (2001) mit Edward Norton und Robert De Niro ragen aus der letzten Dekade seines filmischen Schaffens Brandos Auftritt als väterlicher Psychiater in „Don Juan DeMarco“ (1994) mit Johnny Depp und die Titelrolle in John Frankenheimers „Die Insel des Dr. Moreau“ (nach einem Roman von H. G. Wells) aus dem Jahre 1996 über hybride Genmanipulationen heraus.

Sein bester Film der Spätphase dürfte aber „Weiße Zeit der Dürre“ (1989) sein, ein ambitioniertes, aber leider im Kino nicht sonderlich erfolgreiches Anti-Apartheidsdrama, für das der überzeugte Bürgerrechtler nur eine symbolische Gage nahm. Der Lohn für so viel Engagement: eine Oscar-Nominierung für die beste Nebenrolle.  

Engagiert zeigte sich das oft unbequeme Filmschwergewicht, das aus seiner Verachtung für das oberflächliche Schöner-Schein-Getue der großen Hollywood-Studios und die Filmbranche insgesamt keinen Hehl machte, auch bei der Oscar-Verleihung im März 1973. Nicht Brando betrat die Bühne, um seinen zweiten Goldbuben für die Hauptrolle in „Der Pate“ überreicht zu bekommen, sondern eine Indianerin in traditioneller Apachen-Kleidung. Der zu diesem Zeitpunkt bereits etliche Male Ausgezeichnete lehnte den Filmpreis ab, um ein Zeichen gegen die Unterdrückung von Amerikas Ureinwohnern zu setzen. Es war ein Eklat von historischer Dimension, der, wie so viele der von ihm verkörperten Filmhelden, den am 1. Juli 2004 in Los Angeles erloschenen Schauspielvulkan überlebt hat.

Foto: Marlon Brando als Don Vito Corleone in dem Mafia-Epos „Der Pate“ (o.), als Anführer einer Motorradgang in „Der Wilde“ (l.) und als Erster Offizier in „Meuterei auf der Bounty“: Eine völlig neue Art von Schauspiel, bei der es auf Natürlichkeit und Emotionalität ankam