© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/24 / 29. März 2024

Eine Mogelpackung
Literatur: Der Filmemacher und Autor Werner Herzog hat sich auf die Suche nach der „Zukunft der Wahrheit“ gemacht
Thorsten Thaler

Als Pontius Pilatus Jesus verhört, mit dessen Antworten aber offenbar wenig anfangen kann, fragt er ihn schließlich: „Was ist Wahrheit?“ Eine weitere Antwort wartet er jedoch nicht ab. Ratlos geht er hinaus zu den Hohepriestern, die Jesus Hinrichtung fordern. Pilatus wäscht seine Hände in Unschuld und befiehlt die Kreuzigung des Mannes aus Nazareth.

Mit der Frage nach der Wahrheit hatten sich schon Jahrhunderte zuvor Philosophen wie Sokrates, Platon und Aristoteles beschäftigt, im Mittelalter dann Gelehrte wie Thomas von Aquin, noch später Gottfried Wilhelm Leibniz, Kant, Hegel, Nietzsche und Heidegger, um nur einige zu nennen, und in unserer Gegenwart Dampfplauderer wie Richard David Precht („Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“).

Historische Fake News hat es zu allen Zeiten gegeben

Zu den Wahrheitssuchern hat sich nun auch der Filmemacher und Schriftsteller Werner Herzog gesellt. Der 81jährige geht dabei indes noch einen Schritt weiter und interessiert sich ausweislich des Buchtitels für „Die Zukunft der Wahrheit“. Doch wer auch immer auf diesen Titel gekommen ist, der Autor selbst oder ein findiger Marketingmensch aus dem Hanser-Verlag, er ist eine Mogelpackung. Denn auch Herzog schreibt gleich im ersten Kapitel nach dem Prolog: „Niemand weiß, was das ist, Wahrheit. Allen voran weiß es der Autor nicht …“ Deshalb will er sich aus der Debatte um den philosophischen Begriff auch heraushalten, wie er weiter anmerkt. Seine Erörterungen reflektierten lediglich seine Beobachtungen und persönlichen Erfahrungen in der eigenen praktischen Arbeit und – Bescheidenheit ist eine Zier – seine „künstlerische Welterfahrung“. Ihm gehe es nicht in erster Linie um Fakten, sie seien „leblos, sie erleuchten uns nicht, geben uns keine Illumination, keine tiefere Erkenntnis“.

Wovon also handelt Herzogs Gedankensammlung? Er erzählt von Raumfahrtmissionen und fernen Planeten, von Schachcomputern, Künstlicher Intelligenz, ChatGPT und Fake News, der Südpolexpedition von Robert Falcon Scott, dem Tod von Prinzessin Diana und der Entführung durch Außerirdische. Nebenbei kommen Wrestling-Kämpfe, Michelangelo, der Boxer Mike Tyson und TikTok vor. An einer Stelle schildert er über fünfeinhalb Seiten hinweg die Geschichte der Verdi-Oper „Die Macht des Schicksals“. In einem weiteren Kapitel berichtet er von historischen Fake News, die es „zu allen Zeiten in den Tiefen der Geschichte“ gegeben habe. Der Reihe nach geht es um die Schlacht von Pharao Ramses II. gegen die Hethiter, die Regentschaft von Numa Pompilius, des Nachfolgers von Romulus als zweiter König von Rom, um Kaiser Nero und seine Getreuen über dessen Tod hinaus, die Konstantinische Schenkung, jene gefälschte Urkunde, die den Kirchenstaat begründete, um die Potemkinschen Dörfer zur Zeit der Zarin Katharina II. sowie um den Diktator der Zentralafrikanischen Republik, Jean-Bédel Bokassa und dessen Töchter, eine echte und eine falsche.

Und natürlich handelt das Buch von Herzogs Filmen, darunter „Fitzcarraldo“ mit Klaus Kinski, „Kaspar Hauser“, „Flucht aus Laos“ und „Family Romance, LLC“, einem Unternehmen in Tokio, das Menschen unter anderem als Ersatz-Familienmitglieder vermietet.

Das alles liest sich jungfräulich rasch weg, zumal für Angehörige von Herzogs Fangemeinde, ohne freilich Nachhall zu erzeugen oder gar tiefere Spuren zu hinterlassen. Es ist ein Unterhaltungsbuch für verregnete Nachmittage, immerhin. Und vereinzelt gibt es Sätze darin, die es dann gerade mit Blick auf unsere Jetztzeit doch lohnen, festgehalten zu werden: „Wenn heute Informationen in Bruchteilen von Sekunden weltweit verbreitbar sind, spielt die Tatsache, wer das Narrativ bestimmen kann, eine oft größere Rolle, als was die dahinterliegende Realität des Narrativs ist.“

Werner Herzog: Die Zukunft der Wahrheit. Carl Hanser Verlag, München 2024, gebunden, 112 Seiten, 22 Euro