Ulla Hahns sich über 2.400 Seiten erstreckende Tetralogie „Die Geschichte der Hilla Palm“ (2001–2017) ist für den Literaturwissenschaftler Carlos Spoerhase (Uni München) die kommerziell erfolgreichste deutschsprachige autofiktionale Romanreihe der letzten Dekaden. Die Schriftstellerin Hahn erzählt darin die Geschichte ihrer steilen Bildungskarriere, die die Tochter eines ungelernten Arbeiters gegen den Widerstand ihres Herkunftsmilieus aufs Gymnasium, zur Universität und schließlich auf die Bestsellerlisten geführt hat; allein der erste „Hilla Palm“-Band brachte es auf eine halbe Million verkaufter Exemplare. Was an diesem Epos am meisten auffalle, seien „Besteckszenen“, die Hahn stets an entscheidenden Wendepunkten plaziert und die das gesamte Werk leitmotivisch durchziehen. Im langsam eingeübten souveränen Umgang mit Messer und Gabel demonstriere das Proletarierkind Hilla Palm ihre bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit an die Normen der bürgerlichen Gesellschaft. Eine solche literarisch komponierte „Sozialprüfung auf öffentlicher Bühne“ begegne dem Leser derzeit immer häufiger in Gegenwartsromanen, die viele Seiten darauf verwenden zu schildern, wie ihre Protagonisten lernen, mehrere Bestecke und diverse Gläser zu handhaben. Insoweit legen „Besteckszenen“ ebenso wie die Hochkonjunktur der Benimm-Kurse, offeriert von günstigen Volkshochschulen wie von hochpreisigen Führungskräfteseminaren, die hintergründige Klassenstruktur und die nur schlecht verdeckte Ungleichheit westlicher Gesellschaften frei, die sich paradoxerweise als Assoziationen von Gleichen verstehen (Merkur, 2/2024). (dg) www.merkur-zeitschrift.de