© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/24 / 29. März 2024

In der Höhle des Löwen
Hinrich Rohbohm

Er gilt als Manilas gefährlichster Stadtbezirk: Tondo. Heimat des Smokey Mountain, Südostasiens größter Müllkippe. Ort der Ärmsten der Stadt, Ort von Kindern ohne Bleibe, die – nur in einige wenige Stoffetzen gekleidet – um Essen und Pesos betteln. Der Jugendgangs, die, mit Pumpguns und Macheten bewaffnet, auf der Suche nach Beute und leichten Opfern durch die Straßen ziehen. 

Und Tondo ist Ballungsraum für zahlreiche Drogendealer, von denen es Regierungsangaben zufolge landesweit an die 10.000 gibt, die die rund vier Millionen Konsumenten auf den Philippinen mit „Stoff“ versorgen. „Von Cannabis bis Crystal Meth ist alles dabei“, sagt Kent, ein fülliger Mann mit weichen Gesichtszügen und einem sympathischen Lächeln, mit dem sich die JUNGE FREIHEIT in Ermita, einem weiteren Elendsviertel unweit von Tondo entfernt, in einem Einkaufszentrum trifft.

„Handy und Brieftasche lassen Sie bitte im Hotel“ 

Der 48jährige ist in Tondo aufgewachsen, hat als Kind das Elend der Slums am eigenen Leib erfahren. Die Armut. Den Hunger. Die Gewalt. Die Morde. Die Brutalität der Straße. „Es gab Tage, da wolltest du nur noch schreien“, erinnert er sich. Die Drogenkriminalität habe auf den Philippinen im Laufe der Jahrzehnte immer mehr zugenommen. „Da waren die Junkies, die Dealer, und da waren die allmächtigen Drogenbosse, gegen die niemand etwas machen konnte. Diese Ohnmacht der Menschen erklärt auch den Aufstieg von Rodrigo Duterte“, verdeutlicht Kent. Der Ex-Präsident regierte das Land von 2016 bis 2022, hatte vor seinem Amtsantritt mit markanten Sprüchen einen harten Kampf gegen den Drogenhandel versprochen.

„Besonders in Manila wollten die Menschen endlich ein Ende dieser Drogenhölle, die Stadt war eine Geisel von Shaboo und Crystal Meth.“ Morde seien vor allem in Tondo an der Tagesordnung gewesen. „Jugendgangs killten ihre Opfer wahllos, nur um an ihre Brieftasche zu kommen“, schildert Kent.

„Hitler hat drei Millionen Juden getötet, auf den Philippinen haben wir drei Millionen Drogenabhängige. Die würde ich gerne töten“, hatte Duterte für seine Politik geworben. „Wir hätten ihm damals alles durchgehen lassen, nur damit er Manila aus dem Drogensumpf herauszieht“, erinnert sich Kent an die zweifelhafte Popularität von Dutertes damaligen Aussagen. Die meisten haben zu spät erkannt, daß seine Politik vor allem Unschuldige und die Abhängigen trifft, nicht aber die Drogenbosse.“

Heute habe das Land nicht mehr drei, sondern vier Millionen Abhängige. „Gleichzeitig wurden aber über 20.000 Menschen im Namen der Drogenbekämpfung erschossen“, bilanziert der dreifache Familienvater, der es als einer von wenigen geschafft hat, dem Elend von Tondo zu entkommen. Heute bekleidet er eine bedeutende Position in der Stadtverwaltung von Manila, ist mit zahlreichen Interna rund um die Drogenpolitik der 15-Millionen-Metropole vertraut.

Noch vor zwei Jahren hätte er das Gespräch mit einem Journalisten abgelehnt. Kritik an Dutertes Politik galt als heikel, hätte ihm Kopf und Kragen kosten können, wenn etwas darüber bekannt geworden wäre. Doch die Zeiten hätten sich geändert. Zumindest ein wenig, wie er sagt. Anonym möchte er trotzdem bleiben. Der Job, die Familie. Das alles bedeute ihm viel, er wolle nicht zuviel riskieren.

Er sei der „Breadwinner“ seiner Familie, viele seien auf ihn angewiesen. Kent steht auf. „Komm, ich zeige dir, was ich meine. Aber laß dein IPhone und deine Brieftasche besser im Hotel“, schmunzelt er. 30 Minuten später brechen wir gemeinsam auf. Ohne Handy und Brieftasche. Zunächst per Jeepney. Zwischen einem Dutzend weiterer Fahrgäste und ein paar Hühnern sitzend quält sich das länglich-bunte landestypische Fortbewegungsmittel dauerhupend durch den versmogten Feierabendstau von Ermita. Das Ziel: die Höhle des Löwen: Tondo.

Später wechseln wir zu einem normalen Taxi. „Zur Sicherheit“, sagt Kent knapp. Was er meint, wird wenige Minuten später klar, als der Fahrer die Zentralverriegelung betätigt. „Manchmal kommt es vor, daß Diebe die Tür aufreißen und die Fahrgäste ausrauben“, erklärt der Stadtbedienstete. Vorkommnisse, die oft genug auch tödlich enden würden. Weil so mancher Täter sich nicht lange bitten lasse und mit der Pumpgun oder Faustfeuerwaffe einfach mal in den Wagen schieße, um sich Respekt zu verschaffen.

Das Taxi hält vor einer jener unzähligen Wellblechhütten. Stechend-übler Geruch von Müllresten weht einem zur Begrüßung in die Nase. Kinder kommen angelaufen, wollen Essen und Almosen. Kent kramt ein paar Pesos aus der Tasche, verteilt die Münzen an die Kleinen. Aus einer Tüte holt er ein paar Pommes und Hähnchenschenkel hervor, die er zuvor in einem beliebten landestypischen Fast-Food-Restaurant gekauft hat.

„So wie die Kids hier war ich auch mal, dankbar für alles, was ein „Breadwinner“ so mit in die Gegend mitbringt.“ In einer der Wellbechhütten treffen wir einen von Kents Neffen.  Jason und dessen Familie. Sieben Leute. Jason, seine Frau, seine Mutter sowie seine vier Kinder im Alter von drei bis zwölf Jahren. Sie alle teilen sich einen Raum von vielleicht 20 Quadratmetern, der ihnen als Schlaf-und Wohnstätte dient. Auf alten Matratzen hockend, mit einem alten Fernseher in der Ecke, in dem gerade eine Spielshow in den allmählich dunkler werdenden Raum flimmert. Der Müllgeruch von draußen vermischt sich mit Duft von Fisch und Reis. Das Abendessen, das Jasons Frau in einer kleinen Kochnische zubereitet.

„Ohne Kent könnten wir nicht überleben, er ist unser Breadwinner“, nutzt auch Jason dieses Wort, das soviel wie Ernährer der Familie bedeutet. Und die Familie kann sehr zahlreich sein. „Je höher das Einkommen, desto größer die Zahl jener, die zur Familie gehören“, sagt Kent und lacht. Die anderen im Raum stimmen mit ein.

Bis vor drei Jahren lebte auch Jasons Vater hier, Kents älterer Bruder. Auch er war ein Breadwinner, wenn auch kein so großer wie Kent. Jetzt ist er tot. Vor drei Jahren erschossen, weil Polizisten in der Amtszeit Dutertes ihn beschuldigten, Shaboo konsumiert zu haben.

Jason dreht bei dem Thema sein Gesicht weg, versucht seine Trauer zu verbergen. „Er hatte nie Drogen konsumiert. Die Polizisten mußten Quoten erfüllen, mit denen Duterte seine Tatkraft demonstrieren wollte“, sagt Kent. Das sonst so freundliche Lächeln des Mannes ist einem verbitterten Gesichtsausdruck gewichen. Tragödien wie diese waren nicht selten während Dutertes Amtszeit. Und sie sind es, die Kent dazu brachten, nicht länger zu schweigen.

„Sie haben auf Unschuldige Jagd gemacht und wahllos Menschen erschossen“, klagt Kent die Polizisten an. Als Täter seien allenfalls Junkies und Kleindealer aufgegriffen worden. „Die großen Drogenbosse haben Dutertes Leute hingegen verschont, aus Furcht vor deren Racheaktionen.“ Weitestgehend unbehelligt hätten diese ihren Drogenhandel in andere Regionen verlangen können. Unter anderem nach Europa. Und damit auch nach Deutschland.

Zahlreiche Polizisten hätten den Drogenkrieg zudem für lukrative Zusatzverdienste genutzt. „Die hatten selbst Drogen konsumiert oder haben das Geschäft getöteter Dealer übernommen. Oft haben sie auch Unschuldigen die Taten angehängt und sie dann erschossen.“ In den zwei Jahren nach Dutertes Amtszeit seien zunehmend Fälle dieser Art in Manila bekannt geworden. Inzwischen habe die neue Regierung unter ihrem Präsidenten Ferdinand Marcos Junior eine neue Drogenpolitik im Land eingeläutet und diesbezügliche Untersuchungen eingeleitet. „Vor allem werden jetzt die Verbindungen zahlreicher Polizisten in die organisierte Drogenkriminalität näher durchleuchtet“, sagt Kent und drängt allmählich zum Aufbruch. Es wird dunkel in Tondo. Mit der Dunkelheit steige die Gefahr der Raubüberfälle.

„Während Dutertes Herrschaft ist es weitestgehend sicher gewesen“

Per Taxi und erneut mit verriegelten Türen geht es in ein weiteres Slumgebiet in Ermita. Die Sonne ist bereits untergegangen, in der Abenddämmerung tummeln sich erste fette Ratten zwischen dem Müll. Streunende Hunde laufen umher, schlecken einzelne Essensreste auf. Männer sind zu sehen, die sich unweit der Ratten zwischen Plastiksäcken und Pappkartons schlafen legen. An den sichereren und belebteren Hauptverkehrswegen sitzen Männer und Frauen mit Babys auf dem Arm, betteln um Almosen.

Auch Mary-Jane bettelt hier. Das Gesicht der 31 Jahre alten Frau ist von Wucherungen entstellt. Jeden Abend versucht sie von Passanten die nötigen Pesos zu bekommen, die ihr Überleben sichern. „Nein, Gott ist mein Zeuge, ich habe noch niemals Drogen genommen“, beschwört sie. Die aktuelle Situation in der Stadt nach Duterte sieht sie weniger optimistisch als Kent. „Ich beobachte, daß es wieder unsicherer auf den Straßen wird“, sagt sie. Während Dutertes Präsidentschaft sei „ihre“ Gegend weitestgehend sicher gewesen. Jetzt nehme sie wahr, daß „Dealer und Junkies wieder zurückkommen und nachts die Überfälle wieder zunehmen.“ Allein in den vergangenen drei Monaten sei sie zweimal ausgeraubt worden. „Ich war froh, mit dem Leben davongekommen zu sein. Die Diebe beobachten genau, wie häufig mir jemand Geld zusteckt. Daher wechsele ich jetzt immer meinen Standort.“

Inzwischen ist es vollkommen dunkel. Die ein Gefühl von Leben und Sicherheit vermittelnden Straßenstände sind zusammengeklappt, nur noch wenige Menschen sind zu sehen, abgesehen von jenen, die hier übernachten werden. Mary-Jane wird die Straße jetzt auch meiden, hat sich ein notdürftiges Quartier hinter einem alten, verrosteten Wellblechzaun gebaut. Und auch Kent drängt zur Eile. Er blickt sich kurz um.  „Wir sollten jetzt gehen“, sagt er nur.


Fotos: Manilas Slumgebiet Tondo: Immer wieder ziehen Jugendgangs mit Pumpguns und Macheten bewaffnet, auf der Suche nach Beute und leichten Opfern durch die Straßen / In den Straßen Manilas: An den sichereren und belebteren Hauptverkehrswegen sitzen Männer und Frauen mit Babys auf dem Arm, betteln um Almosen  / Drogenkonsument ohne Obdach: Schlaf- und Wohnräume sind in den Slums rar