© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/24 / 22. März 2024

Generation der vielen
Der Soziologe Heinz Bude porträtiert die Generation der Baby-Boomer, ihre Prägungen in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und ihren Einfluß auf die heutige Gesellschaft
Boris Preckwitz

Sie halten die deutsche Wirtschaft noch unter Strom, noch sind sie aus Sicht von Sachverständigen unverzichtbar: die Baby-Boomer – jene in den 1950er und 60er Jahren geborenen Wirtschaftswunderkinder. Nun aber, wo ihnen der Ruhestand zunehmend auf die Pelle rückt, kündigt sich eine ruhelose Memoiren-Literatur an. „Abschied von den Boomern“ lautet der Titel eines erbaulichen, weil kundigen Buches des Soziologen Heinz Bude. Reservieren wir sicherheitshalber ein Regal für den anschwellenden Boom der Boomer-Biographien und fragen wir, während sich der Bauch der Alterspyramide in die Buchauslagen schiebt, nach seinem Platz in der deutschen Geschichte.

„Als Jugendliche erleben die Boomer in den 1970er Jahren eine Zeit mit autofreien Sonntagen, Smogalarm und ‘Sockelarbeitslosigkeit’. Das entscheidende Stichwort zur Lage der Dinge lautete ‘Grenzen des Wachstums’ (Club of Rome)“, schreibt Heinz Bude seiner Generation ins Stammbuch. Kaum war Kanzler Willy Brandts Devise „Mehr Demokratie wagen“ erklungen, tobte sich der RAF-Terror aus. Auch die 1980er Jahre wurden kaum besser: mit ihren Brokdorf-Scharmützeln, den ersten Aids-Fällen, Punk und Pershing II, Tschernobyl und der für Linke verstörenden Implosion des Sozialismus auf deutschem Boden. Im grün abgetönten Westen zählte es zur apokalyptischen Doppelzüngigkeit, bei millionenfachen Schwangerschaftsabbrüchen über Jahrzehnte zu behaupten, man habe sich die Erde von seinen Kindern nur geborgt.

Bude würdigt andererseits die Aufbruchsleistungen der Boomer-Generation. Sogar die Kanzlerschaft Helmut Kohls: „Als Mann aus der Provinz verkörperte Kohl die Unfähigkeit zu resignieren und als Wahlverwandter von Ronald Reagan und Margaret Thatcher den Willen, das sozialdemokratische Zeitalter aus Globalsteuerung, Staatsunternehmertum und Sozialpaternalismus hinter sich zu lassen.“ In der Bundesrepublik gelangten breitere Schichten in die Hochschulen. Für die Boomer-Generation der DDR war es hingegen eine häufige Jugenderfahrung, aufgrund bürgerlicher Herkunft nicht zum Studium zugelassen worden zu sein. Sie sprangen dem bröckelnden Proletarierparadies von der Schippe und brachten die rote Republik 1989 zu Fall.

Zeitzeugen einer einzigartigen Geschichte waren die Boomer von der Wiege an. Als erste durch einen Mauerstreifen geteilte Generation waren sie geistesgegenwärtig genug, die deutsche Wiedervereinigung als ihr eigenes Generationsprojekt zu begreifen und zu gestalten. Der Wohlstand, den sie teils erbten, teils erwirtschafteten, macht es ihnen möglich, das Land als gemeinsames Haus der Deutschen zu restituieren. Und kaum eine größere Lebensleistung gibt es, als jene der nordost- und mitteldeutschen Bundesbürger, die sich unter ungekannt kapitalistischen Verhältnissen ihre Existenz ein zweites Mal aufbauten. 

Die unmittelbar anschließende Dynamik der Informationstechnologien und der Globalisierung prägte die Berufsbiographien der Boomer entscheidend. Die 1990er Jahre wurden zum Jahrzehnt von Microsoft, Apple, Amazon und Google. Weit entfernte Kontinente wurden zu einer Frage von wenigen Flugstunden. Wie Bude im Kapitel „Die Roaring Nineties“ gut beschreibt, nahmen die Boomer die ökonomischen Herausforderungen mit großem Pragmatismus an und wurden expeditiver in ihren teils sehr findigen Berufsbiographien. „Überall mischte das Ich mit, das sich mit Listen der Ohnmacht, Strategien der Einflußnahme, Finten der Täuschung oder Clous der Cleverness aus der Affäre zog. Für die Boomer war das Ich kein Fels in der Brandung, sondern eine Quelle von Wirkungen, die es selbst nicht überschaute. Es war jedenfalls nicht nur Repräsentant einer Position, sondern immer auch Ausdruck einer Distanz und Bestandteil eines Manövers.“ Die Charaktere vieler Boomer entwickelten sich über seelische Selbsttechniken hin zum Performativen, zum Austesten der eigenen Fähigkeiten. Es lag ein guter Leistungswille in den Werdegängen der Boomer, gerade auch in den Lebensläufen der Frauen, die mit hoher Moral Familie und Beruf in eine Balance zu bringen versuchten.

Andererseits – sind die Boomer nicht auch die Generation, die über Jahrzehnte den öffentlichen Dienst aufgebläht, Infrastruktur verschlissen, Bildung und Kunst verflacht, Rentenreformen verhindert, einen sozialpolitischen Vorruhestand vorgelebt hat und das selbstgeschaffene Demographieproblem durch unkontrollierte Immigration noch immer verschlimmert? Eine Generation, die das Land in einem schlechteren Zustand hinterläßt, als sie es vorfand? Der bisherige Sozialstaat kann nicht mehr funktionieren, wenn ein Drittel der Bevölkerung in einigen Jahren im Rentenalter steht und das Bürgergeld Millionen Nichterwerbstätige alimentiert.

Am Horizont ziehen dunkle Wolken auf: Zum politischen Erbe der Boomer zählen auch die Hinterlassenschaften Angela Merkels. Die Wiederkehr ihrer Farce als Posse liefert derzeit ein Mann namens Olaf Scholz. Solche Verwalter verraten mehr über eine Generation, als ihr lieb sein sollte. Dessen ungeachtet haben die spezifischen Erfahrungen von Geschichte, welche die Boomer in ihren sozialen Milieus machten, die Parteienlandschaft verändert. Mit drei Parteien (BRD) und einer Partei (DDR) in den 1970er Jahren gestartet, haben inzwischen  etliche Parteien mehr ihren Platz in den Parlamenten gefunden. 

Zusätzlich zu den bedenkenswerten Befunden, die Bude herausarbeitet, hätte sich der Leser eine weitergehende Analyse der kulturellen Hegemonie gewünscht, die sich auf dem Höhepunkt der Boomer-Ära einstellte. Immerhin waren es ihre universitären Ausbildungen samt postmodernen und poststrukturalistischen Theorien, die medial bewußtseinsbildend in die Gesellschaft hineingewirkt haben. Daß diese dem Verhältnis der Geschlechter, der Bildungstiefe, dem Kunstschaffen, dem Ansehen technischer Berufe und der allgemeinen Kulturleistung nicht gutgetan haben, ist offensichtlich.

Dennoch ist menschliche Ehrerbietung angebracht. Viele Männer und Frauen aus der Alterskohorte der Boomer haben beeindruckende Lebensleistungen hingelegt, ihre Kinder auf gute Wege gebracht, Häuschen zusammengespart, Betriebe gegründet und geführt und neuerdings sogar ökologisch bewußt Blühstreifen gesät. Sie sind das lebenslange Lernen geübt, und die Millennials können sich nur wünschen, daß ihre Vorgänger auch in ihren Rentenjahren ihr Bestes zum Wohl unseres Landes beitragen werden. Denn noch haben Boomer und Boomerin das eine und andere politische Versäumnis zu korrigieren.

Heinz Bude: Abschied von den Boomern. Carl Hanser Verlag, München 2024, gebunden, 144 Seiten, 22 Euro