Spießertum. Wenn große Echsen fressen, drückt ihr Oberkiefer auf eine Drüse hinter dem Augenlid, die dann ein Sekret absondert. Weil es dadurch so aussieht, als weinten die Tiere, während sie ihre Beute verspeisen, hat sich der Ausdruck „Krokodilstränen vergießen“ etabliert: für eine besonders heuchlerische Form gespielten Mitleids. Das freilich tut den armen Krokodilen, die nichts dafür können, unrecht. Aber eine ganze Generation hat sich dies als politisch erfolgreiches Konzept abgeschaut, glaubt man Pauline Voss. In ihrem Debatten-Buch geht die junge Journalistin, Jahrgang 1993, pointiert-kritisch mit einem Gutteil ihrer „woken“ Altersgenossen ins Gericht. Die nämlich übten Macht aus, indem sie geschickt verschleierten, daß sie Macht haben. „Sie ergreifen das Wort, um es zurückzuweisen“, so Voss’ Verdikt gegen die Protagonisten einer Cancel-Culture, die Vorträge verhindern und Diskussionen ersticken wollen. Ein neues Spießertum habe sich da insbesondere im akademischen und medialen Umfeld breitgemacht. Wobei man, bemerkt Voss, beim erklärten Feldzug gegen Diskriminierung gern gegen vermeintliche wettert, die echten aber ausspart. Ausdrücklich erwähnt die Autorin zum Beispiel das patriarchalisch-einschüchternde Verhalten mancher männlicher muslimischer Migranten gegenüber jungen Frauen. Das besondere Anliegen auf ihren knapp 200 Seiten: die Theorien des französischen Pop-Philosophen Michel Foucault vom Kopf auf die Füße zu stellen, um den „Woken“ eines ihrer Machtmittel zu entreißen. (vo)
Pauline Voss: Generation Krokodilstränen. Über die Machttechniken der Wokeness. Europa Verlag, Berlin 2024, gebunden, 200 Seiten, 22 Euro
Sonneborn. Martin Sonneborn hat eine bemerkenswerte Entwicklung hinter sich. Aus dem leidlich witzigen Titanic- und Spiegel-Spötter, der ein satirisch gemeintes Mandat über die Spaßformation „Die Partei“ im EU-Parlament ergatterte, wurde in Brüssel ein durchaus ernstzunehmender fraktionsloser Abgeordneter. Was da passiert, ist nämlich ganz und gar nicht zum Lachen. Vor allem das wenig demokratische Gebaren der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat der 58jährige in den vergangenen Jahren immer wieder kenntnisreich aufgespießt – was allerdings außerhalb der Brüsseler Politikblase kaum jemand mitbekam. Wohl deswegen hat er nun ein Buch dazu veröffentlicht. Auf mehr als 400 Seiten schildert er dort seine Erlebnisse. Egal ob im Parlament, in Bars oder den Fluren. Natürlich darf auch AfD-Bashing nicht fehlen. Wenig lesenswert, dafür maximal nervig, sind die zahlreichen Medienartikel, Tweets und Youtube-Videobeschreibungstexte, die er auszugsweise auf fast jeder Seite einfügt, um das eigene Wirken auch darzustellen. (ho)
Martin Sonneborn: Herr Sonneborn bleibt in Brüssel – Neue Abenteuer im EU-Parlament. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, broschiert, 429 Seiten, 20 Euro