© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/24 / 22. März 2024

Stolz und Vorurteil
Die Journalistin Jessy Wellmer analysiert die Entfremdung zwischen Ost- und Westdeutschen. Ihre wohlfeilen Rezepte zu deren Überwindung überzeugen nicht wirklich
Hans Krump

 Jessy Wellmer, einem Millionenpublikum bekanntes Gesicht der Sportschau und seit Oktober 2023 der „Tagesthemen“ in der ARD, hat ihr erstes Buch vorgelegt. „Die neue Entfremdung“ heißt das sehr persönlich geschriebene Werk, das die Befindlichkeiten der Menschen im Osten Deutschlands unter die Lupe nimmt. Eigentlich war das „Ostthema irgendwie durch“, resümiert die 44jährige gebürtige Güstrowerin. Mit Rußlands Angriff auf die Ukraine sei es damit vorbei. Viele Bürger in den neuen Ländern nähmen die moralische Haltung des Westens und die Ächtung Rußlands „als Angriff auf sich, auf ihre Ostidentität“. Im Osten heiße es: „Der Westen tut den Russen unrecht, so wie der Westen uns Ostdeutschen nach dem Mauerfall unrecht getan hat“, schreibt Wellmer.

Das alles trotz Putins Annexionsplänen und obwohl zu DDR-Zeiten die kasernierten russischen Soldaten oder platten Parolen der „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“ alles andere als beliebt waren. Darüber hat Wellmer 2022 auch die ARD-Dokumentation „Rußland, Putin und wir Ostdeutsche“ gedreht – ein Aufregerthema. Sie bekam unzählige Zuschriften, in denen Ostbürger ihrem Ärger über „Demütigungen, Zurücksetzungen und Ignoranz“ nach der Wendezeit Luft machten. „Der Schmerz, den ein erheblicher Teil der Ostdeutschen nach 1990 erlebt haben, scheint kaum verblaßt“, sagt Wellmer. Das klingt alles ein wenig nach Gregor Gysi, aber die Beobachtung ist wohl nicht ganz falsch. Jedenfalls führe dies, so Wellmer, umgekehrt zu neuen Abstoßungsreaktionen im Westen, wo gerne an die Milliardentransfers seit 1990 in die Ex-DDR erinnert wird. Dort würden die „undankbaren“ Ostler mehr denn je als Störfaktor im „weltoffenen“ Bundesdeutschland wahrgenommen. Zur Fremdheit gehören fürs westdeutsche Juste milieu auch die Pegida-Demonstrationen oder die großen AfD-Wahlerfolge. 

Die Lehrertochter Wellmer war neun, als 1989 die Mauer fiel und die DDR-Sozialisation bei ihr frühzeitig unterbrochen wurde. Sie sieht sich deshalb nicht als „Kind der DDR und nimmt sich vor, alte Konflikte zu überwinden. Dies allerdings mit West-Prägung, denn nach der Schule im Mecklenburgischen ging Wellmer wie so viele Ostfrauen in den Westen, zum Studium in den West-Teil Berlins, sie arbeitete später lange als Sportjournalistin bei der ARD in Köln und lebt heute mit einem West-Journalisten und ihren beiden Kindern im gutbürgerlichen Stadtteil Charlottenburg im Westen Berlins. 

Sie verhehlt nicht, mit ihrer „Ossi“-Herkunft zu kokettieren und vieles aus ihrer Journalisten-Blase heraus zu sehen. Deshalb wird Kritik an den realen Verwerfungen der illegalen Massenmigration, die mittlerweile auch den Osten erreicht haben, oder an den Sensibilitäten der Sachsen oder Brandenburger gegenüber Tönen aus der Politik, die viele an die DDR-Diktatur erinnern, nicht thematisiert. Breit werden im Buch die Faktoren für das Fortbestehen des Ostens als „Sondergebiet“ trotz Einheit genannt – von der starken Abwanderung junger und erfolgshungriger Menschen, den unterschiedlichen Startvoraussetzungen von Ost- und Westdeutschen bis hin zur einseitigen Sichtweise der im Westen residierenden Leitmedien. 

Die Beschäftigung mit der ostdeutschen Seele hat Konjunktur, zuletzt durch Dirk Oschmanns Bestseller-Schrift „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ (2023). Wellmer versteht ihr Werk als Kontrast zur Sichtweise des Leipziger Germanistik-Professors. Der wirft „dem Westen“ vor, seit 1990 die Ostdeutschen systematisch abgewertet und um ihre Chancen gebracht zu haben. Oschmanns Buch, so Wellmer, stärke „das falsche Selbstbewußtsein“ – nämlich „aggressives Selbstmitleid“ (Wolf Biermann) und die ständige Abgrenzung zum Westen.

Sie selbst betont die Freiheiten im vereinten Deutschland, die Rechtsstaatlichkeit, die Reisemöglichkeiten und die Möglichkeit, seine Meinung sanktionsfrei äußern zu können. Aus der Warte einer erfolgreichen, unkündbaren Journalistin im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist das alles richtig bemerkt. Aber wie sieht es mit Menschen aus, die unter Abweichlerverdacht stehen, etwa bei den Corona-Maßnahmen oder die „irgendwie rechts“ eingeordnet werden? Sie gehören nicht zur „Gesellschaft der Guten“ und werden ausgegrenzt. 

Zu Recht verweist die Autorin darauf, daß die Bürger im Osten stolz darauf sein könnten, 1989/90 die SED-Diktatur überwunden zu haben. Wohltuend auch, wenn Wellmer berichtet, wie die Angst ihrer West-Bekannten vor einem  „präpotenten Großdeutschland“ bei der Wiedervereinigung sie „befremdet oder sogar abgestoßen“ hätte. Irritierend dann ihre Bemerkung: „Ich bin Mecklenburgerin, Berlinerin, Mitteleuropäerin“, ohne das „Ich bin Deutsche“ zu erwähnen. Dabei betont sie am Schluß, wie wichtig es sei, sich gesamtdeutsch zu definieren und spalterische Debatten hinter sich zu lassen. In ihrem Buch versucht Wellmer, sich in die Sichtweisen von Ost und West im vereinten Land einzufühlen. Ost-Nostalgien von Älteren lehnt sie ab. Denen entgegnet die Journalistin: „Wir dürfen unser Leben führen in unserem Land.“

Jessy Wellmer: Die neue Entfremdung. Warum Ost- und Westdeutschland auseinanderdriften und was wir dagegen tun können. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, gebunden, 256 Seiten, 24 Euro