Mitte Mai 1940 hatten die Alliierten die Schlacht um Frankreich praktisch verloren. Die ins Nachbarland emigrierten Juden und NS-Regimegegner gerieten dadurch in höchste Gefahr, zumal das Gros von ihnen seit dem Kriegsausbruch interniert war. Wer konnte, floh meist Richtung Mittelmeer, und Marseille wurde zur Anlaufstelle vieler verzweifelter Ausreisewilliger. Die Misere verschlimmerten Millionen einheimische Flüchtlinge und versprengte britisch-französische Soldaten, die sich nach Süden durchschlugen. Fluchthilfeorganisationen unterschiedlichster Motivation und Ausrichtung waren dem Ansturm kaum gewachsen, leisteten aber gleichwohl Beachtliches und Verdienstvolles. Uwe Wittstock hat darüber ein Buch geschrieben, mit Kulturschaffenden im Zentrum.
Sein im Klappentext formulierter Anspruch, das „dramatischste Jahr der deutschen Literaturgeschichte“ zu schildern, wirkt allerdings eher reißerisch-anmaßend wie der Untertitel: „Die große Flucht der Literatur“. Geht es doch lediglich um ausgewählte Schicksale (einst) prominenter deutscher und österreichischer Schriftsteller im Süden Frankreichs, also um Namen wie Anna Seghers, Hannah Arendt, Lion und Marta Feuchtwanger, Heinrich, Nelly und Golo Mann, das Ehepaar Fittko, Franz und Alma Werfel, Hertha Pauli und Walter Mehring. Hinzu kommen als Suizid-Opfer Walter Hasenclever, Ernst Weiß oder Walter Benjamin. Die Kunst vertreten Marc Chagall, André Breton oder Max Ernst im Verbund mit den millionenschweren Mäzenatinnen Peggy Guggenheim und Mary Jayne Gold, die gleichzeitig die Rettungsaktivitäten des Emergency Rescue Committee (ERC) in Frankreich unterstützten, getragen vom couragierten Team des New Yorkers Varian Fry.
Das ergibt treffliche Flucht- und Fluchthelfer-Geschichten, die einiges von dem veranschaulichen, was eine blühende Exilforschung seit Jahrzehnten eruiert hat, ergänzt durch zahlreiche Lebensberichte und Romane, von Feuchtwanger über Seghers bis Remarque. Die Stärken von Wittstocks Band liegen im Atmosphärischen, weniger im Innovativen oder der methodischen Stringenz. Denn die biographische Auswahl folgt keiner erkennbaren Typologie und die reklamierte Authentizität („Für alles, was hier erzählt wird, gibt es Belege, nichts wurde erfunden.“) bleibt eine relative. Selbstäußerungen zumal von Autoren verdienen nun mal Distanz. Und wo Wittstock szenisch wie dialogisch erzählt, herrschen eher fiktionale Darstellungs- als analytische Prinzipien.
Immerhin bietet der Band allen, die sich erstmals der Materie zuwenden, ergreifend-realistische Einblicke in ein Massenelend. Dazu gehört das vielfach vergebliche Warten auf gültige oder gefälschte Ein-, Durch- und Ausreisepapiere samt Schiffspassagen. Der verzweifelte Kampf mit einer zuweilen tödlichen Bürokratie wird ebenso anschaulich wie die Dauerangst vor Razzien, Strapazen auf Schmuggelrouten oder die Ausbeutung durch Mafiosi. Extremer Mangel zeigt sich neben Luxus. Menschliche Abgründe kontrastieren mit selbstloser Hilfsbereitschaft. Das Sujet taugt zum spannenden kollektiven Politkrimi, und Wittstock tut ein Übriges, die Einfühlung zu vertiefen.
Vertraut er doch auf die episch-filmischen Erfolgsmuster seines Vorgängerbands „Februar 33“. Es menschelt aller Orten. Exilanten beweisen Nervenschwäche oder Kaltblütigkeit, tragen Rivalitäten aus oder zeigen Solidarität. Auch gehört es wohl zum heute gängigen Biographie-Standard, ausgiebig über das Liebesleben unserer Heldinnen und Helden zu informieren. Von Alma Werfels Eskapaden über Varian Fry, von Peggy Guggenheim bis Mary Gold. Das wohl am läppischsten traktierte Kapitel über den großen antifaschistischen Pariser Schriftstellerkongreß 1935 endet bezeichnenderweise mit Feuchtwangers Tagebuchnotiz: „Abends Lilo. Sie endlich gevögelt.“
Dabei hätte sich gerade anhand dieser Veranstaltung illustrieren lassen, was durch wenige Bemerkungen zum Konflikt zwischen Ilja Ehrenburg und Anna Seghers mit dem Antistalinisten Victor Serge kaum angemessen erhellt wird: die prekäre Rolle des Kommunismus im blutigen Weltbürgerkrieg der Ideologien, unerläßlich zum Gesamtverständnis der Exilproblematik. Das gilt für das Verhalten mancher französischer oder US-amerikanischer Administrativorgane ebenso wie für Querelen innerhalb des ERC. Schließlich implizierte die Personenauswahl der Fluchthelfer eine rettende Privilegierung weniger, die auch von politischen Haltungen und Stimmungen beeinflußt wurde.
Dabei unterminierte Moskaus weltrevolutionärer Anspruch in etlichen Ländern zeitweilig fraglos bürgerliche Widerstände gegen NS-Deutschland. Etliche emigrierte Linksintellektuelle verteidigten den Hitler-Stalin-Pakt, wo sie zuvor noch zum Krieg gegen Deutschland rieten. Die Feuchtwanger, Seghers, Bloch, Kisch und Heinrich Mann rechtfertigten Stalins blutige „Säuberungen“ und andere millionenfache Menschenopfer – mitleidlos, wo „Klassenfeinden“ das geschah, was sie nun selbst erduldeten. Insofern ist es ein Manko, daß bei Wittstock von KP-„Renegaten“ wie Willi Münzenberg oder den im Pyrenäenlager internierten Arthur Koestler und Gustav Regler keine Rede ist, von bürgerlichen Antipoden wie Leopold Schwarzschild oder Alfred Polgar ganz zu schweigen. Es hätte das simple Gut-Böse-Schema des Buchs ein wenig aufgeweicht und zugleich die Zwickmühle der Parteiung verdeutlicht.
Doch wie dem auch sei. Als Gesamteindruck der Lektüre bleibt zu Recht Empathie mit den jeweils Unterdrückten und Verfolgten aller Länder und Zeiten – in Ansätzen nachvollziehbar selbst heute, wo einstweilen erst Einzelne wie Michael Ballweg oder Akif Pirinçci für ihre Überzeugung in Gefängnissen landen oder entsprechend bedroht sind.
Uwe Wittstock: Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur. Verlag C.H. Beck, München 2024, gebunden, 351 Seiten, 26 Euro