© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/24 / 22. März 2024

Gescheiterte Zeitenwende
Michael Grüttners Geschichte der Universitäten im Dritten Reich dokumentiert, daß diese keine „totalitäre Herrschaft“ in der Wissenschafts- und Hochschulpolitik ausüben konnte
Wolfgang Müller

Vor dem Mauerfall ist die Geschichte der deutschen Universitäten im Dritten Reich ein Stiefkind der Forschung gewesen – sowohl in der Bundesrepublik wie in der DDR. Nach der Wiedervereinigung, seit Ende der 1990er, hat sich die Zahl der Publikationen jedoch „explosionsartig“ vervielfacht. Mittlerweile, so bilanziert der auf diesem Feld seit Jahrzehnten ackernde Zeithistoriker Michael Grüttner (TU Berlin), liegen für die meisten deutschen Universitäten umfangreiche Monographien oder Aufsatzsammlungen zu ihrer Geschichte während des Nationalsozialismus vor. Die wenigen Hochschulen hingegen, die noch keine „kritischen Publikationen zur Aufarbeitung ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit vorgelegt haben, stehen seit einigen Jahren erkennbar unter Handlungsdruck“. Das klingt bedrohlich nach „Vergangenheitsbewältigung“, und tatsächlich orientierte sich diese Art von „Aufarbeitung“ der Universitätsgeschichte und vor allem die der Historie einzelner Wissenschaftsdisziplinen stets an den verbiesterten politisch-moralischen Vorstellungen und Vorgaben des „besten Deutschland, das es je gab“ (Frank-Walter Steinmeier).

Mit seiner fast 700seitigen Arbeit verspricht Grüttner, erstmals eine Gesamtdarstellung zum Thema vorzulegen. Das ist nur bedingt richtig. Denn eine solche, von der er sich gleich eingangs abgrenzt, liefert bereits Helmut Heibers dreibändiges Werk über die „Universität unterm Hakenkreuz“ (1991–1994). Doch für Grüttner krankt dieses Monument daran, daß es seine ungeheure Materialfülle „ungefiltert und gern in anekdotischer Form“ nicht gegliedert durch Fragestellungen, Thesen und Typologien präsentiert. Einmal abgesehen davon, daß Heiber auch die Technischen Hochschulen und selbst noch die katholische Staatliche Akademie im ostpreußischen Braunsberg in seiner Darstellung berücksichtigt und damit dem Vollständigkeitsanspruch eher genügt als Grüttner, der sich auf die 29 nominellen Universitäten der seit 1938 expandierten reichsdeutschen Hochschullandschaft beschränkt, gliedert Heiber seinen Stoff sehr wohl durch Fragestellungen, die sogar denen Grüttners weitgehend ähneln. Nur eben  mit „Thesen“ fremdelt Heiber, der schon mit seinem 1.200seitigen Standardwerk zur Geschichte der Geschichtswissenschaft zwischen 1933 und 1945 („Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands“, 1966) der Maxime folgt: „Kompliziertheiten kommt man nicht durch Allgemeinheiten bei“ (Wilhelm Fraenger, 1912). Nur Steigerung der Komplexität, um die sich Heibers lebendige, weil anekdotenreich personalisierende Vergegenwärtigung der Aktenüberlieferung bemüht, sabotiert erfolgreich jene ahistorisch-didaktischen Reduzierungen des Stoffes, die dazu verführen, aus der Geschichte lediglich Falsches zu lernen.

Fairerweise ist Grüttner zuzugestehen, daß er sich trotz seines durchgängig polemischen Jargons („Nazis“, „Nazi-Deutschland“, „Nazi-Germanisten“) und zahlloser ideologisch korrekter Pauschalierungen im Zentrum seiner Arbeit, der Beschreibung des Verhältnisses der gesellschaftlichen Funktionssysteme Politik und Wissenschaft in der NS-Diktatur, durchaus auf „Kompliziertheiten“ einläßt. Daher relativiert er die gängige Rede von der aus rechter „Geistfeindlichkeit“ gespeisten generellen „Wissenschaftsfeindlichkeit“ der in Staat und Partei für die Hochschulen verantwortlichen Funktionäre. Die konnten sie sich schon deshalb nicht leisten, weil ohne sinnstiftende, den psychosozialen Zusammenhalt der „Volksgemeinschaft“ sichernde Geisteswissenschaften und erst recht nicht ohne auf Weltniveau forschende Natur- und Ingenieurswissenschaften die aufrüstende, im Takt von Vierjahresplänen wirtschaftliche Autarkie anstrebende Industrienation Deutschland nicht in den Kreis der Großmächte hätte zurückkehren können. Allerdings wurde der wahre Wert vor allem der naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen erst kurz vor Kriegsausbruch erkannt. 

Erst als es zu spät war, nach dem Scheitern des „Blitzkriegs“ gegen die Sowjetunion und dem Kriegseintritt der USA, realisierten Führungsfiguren wie Joseph Goebbels und Hermann Göring in vollem Ausmaß, in welche Kalamitäten einerseits eine bis 1936 ideologisch dominierte Personalpolitik, andererseits eine falsche Prioritäten setzende Sparpolitik sie gebracht hatte. So erklärte Göring bei seiner Antrittsrede im Reichsforschungsrat, im Sommer 1942, es sei falsch gewesen, nach der Machtübernahme herausragende Forscher „nur“ wegen ihrer jüdischen Herkunft oder einer jüdischen Ehefrau zur Emigration gezwungen zu haben. Während Goebbels zur gleichen Zeit in seinem Tagebuch bedauerte, daß Reichswissenschaftsminister Bernhard Rust das kriegswichtige Potential der deutschen Forschung, etwa die Hochfrequenz- und Raketentechnik, nicht ausreichend gefördert habe. Die dadurch ermöglichte angloamerikanische Überlegenheit, lange vor 1940 erreicht, bekäme die ihrer Niederlage entgegengehende Wehrmacht gerade im U-Boot- und im Luftkrieg über dem Reichsgebiet zu spüren. 

Gerade anhand solcher fatalen Weichenstellungen macht Grüttner deutlich, wie weit die NS-Herrschaft vom nach 1945 konstruierten Idealtyp „totalitärer Herrschaft“ auf dem Sektor der Wissenschafts- und Hochschulpolitik entfernt war. Weder gab es ein die polyzentrischen Zuständigkeiten bändigendes, weltanschaulich konsistentes Konzept von „nationalsozialistischer Wissenschaft“, noch eine zentrale Lenkungsinstanz, die es hätte durchsetzen können. Das Rust-Ministerium war es jedenfalls nicht, noch viel weniger die Parteiapparate des Chefideologen Alfred Rosenberg oder des NS-Dozentenbundes. Die weltanschaulich das hieß primär rassenpolitisch angeleitete „Neugestaltung der deutschen Wissenschaft“, die diese Agenturen in Angriff nahmen, kam daher, wie Grüttner einmal mehr Heiber folgend resümiert, über bescheidene, zu Kriegsbeginn abgebrochene Versuche der Indoktrination in „Dozentenlagern“ und „Dozentenakademien“ nicht hinaus.

Faßt Grüttner in seinen Kapiteln zur politisch-soziologischen Ausgangslage der Universitäten am Ende der Weimarer Republik, zu der von Entlassungen und Vertreibungen geprägten Zeitenwende von 1933/34, zu den Strukturen und Akteuren der NS-Hochschulpolitik sowie schließlich zum Alltag von Lehre und Forschung im Krieg zusammen, was dem Kenner der Materie zwar nichts Neues bietet, aber eine gute Übersicht über den Stand des Erreichten verschafft, ist das letzte, ausgewählten Disziplinen – mit dem Schwerpunkt auf Theologie, Rechts- und Geisteswissenschaften – gewidmete Kapitel eine schwere Enttäuschung. Hier rächt sich am schmerzlichsten, daß die Arbeit außer auf Akten nur auf „Ausnutzung wissenschaftlicher Literatur“ basiert. Der Historiker Grüttner fabriziert hier, offenbar mit keiner anderen Wissenschaft vertraut,  aus Sekundär- nur Tertiärliteratur. Um zu zeigen, wie sich Wissenschaft unter dem Gesetz staatlich „geduldeter Mehrstimmigkeit“ (Georg Bollenbeck) konkret vollzog, wäre allerdings anhand von Primärtexten die Mischung vermeintlich zeitlos „objektiver“ Wissenschaft und zeitbedingt „subjektiver“ Weltanschauung zu bestimmen gewesen.

Michael Grüttner: Talar und Hakenkreuz. Die Universitäten im Dritten Reich. Verlag C.H. Beck, München 2024, gebunden, 704 Seiten, 44 Euro