Judenfeindschaft. Der 1912 in Wien geborene Essayist Hans Mayer floh nach dem „Anschluß“ Österreichs als politisch und rassisch Verfolgter nach Belgien, war dort im Widerstand gegen die deutsche Besatzung aktiv, wurde 1943 verhaftet und überlebte die Lager-Höllen von Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen. Unter seinem Autorennamen Jean Améry wurde Mayer erst 1965, im Nachhall des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, mit dem Aufsatz „Die Tortur“ einem breiteren Publikum bekannt. Wie fast alles, was er seitdem bis zu seinem 1978 gewählten Freitod publizierte, verarbeitet auch dieser Text sein eigenes Schicksal, um daraus moralisch-kritische Lehren abzuleiten. Verpflichtet blieb er dabei einem zutiefst pessimistischen, in der KZ-Haft bestätigten Menschenbild und dem im neopositivistischen „Wiener Kreis“ um Schlick, Neurath und Popper genährten Mißtrauen gegen alle Spielarten von Ideologie – Metaphysik und Religion eingeschlossen. Diese skeptische Nachdenklichkeit verwickelte Améry auf einem zentralen Kampfplatz der „Vergangenheitsbewältigung“, dem deutschen Verhältnis zu Israel, zwangsläufig in Konflikte mit einer kulturrevolutionären Linken, die schon damals Haßgesänge wie „Schlagt die Zionisten tot, macht den Nahen Osten rot“ anstimmte, um ihre Judenfeindschaft als „Antizionismus“ auszutoben. Abgesehen vom Novum des qua Massenzuwanderung importierten muslimischen Antisemitismus, führen Amérys fünfzig Jahre alten Texte mitten hinein in die zum Thema Israel verhandelten Gegenwartsprobleme. Ihre Aktualität beziehen sie also gewiß nicht, wie die Herausgeberin Irène Heidelberger-Leonhard unterstellt, „aus dem rasanten Aufstieg der AfD“. Diese Partei hat auch nichts mit dem „neuen Antisemitismus“ zu tun, wie der Titel der Aufsatzsammlung suggeriert. Der zeigt sich heute in Deutschland eher mit einem anderen Gesicht: nämlich entweder links oder muslimisch. (wm)
Jean Améry: Der neue Antisemitismus, Cotta Verlag, Stuttgart 2024, broschiert, 126 Seiten, 18 Euro
Überleben. Daniel Finkelstein wurde 1962 in London geboren, er studierte an der dortigen School of Economics, arbeitete als Journalist und war politisch in unterschiedlichen Lagern unterwegs, zuletzt bei den Konservativen, die er seit 2013 als Life Peer sogar im britischen Oberhaus vertritt. Seine Existenz hing allerdings am seidenen Faden, denn beide Eltern mußten zuvor tödlichen Systemen entrinnen, die jeweils Millionen von Opfern forderten. Die noch in Berlin geborene und als Baby 1933 nach Amsterdam emigrierte Mutter, die 1943 ins KZ Bergen-Belsen deportiert wurde, konnte der nationalsozialistischen Todesmühle des Rassenmords 1945 nur durch glückhafte verschlungene Pfade entkommen. Finkelsteins 1929 geborener Vater geriet als Sohn wohlhabender Juden in Lemberg nach dem Hitler-Stalin-Pakt in das sowjetische System des Klassenmordes. Nach der Verhaftung des Familienoberhauptes wurde dieser mit seiner Mutter Luisa „in einen anderen Teil der Sowjetunion“ deportiert, was nichts anderes als Gulag bedeutete, stets von Kälte und Hungertod bedroht. Eine überraschende Amnestie des Vaters, der aus der Gulag-Hölle von Uchta nur deshalb entkam, weil er sich zur polnischen „Anders-Armee“ meldete, rettete auch den 13jährigen Sohn, der aus dem Sowjetreich über den Iran entkommen konnte. Dieser Exkurs über die polnische Armee unter General Władysław Anders, die ursprünglich an seiten der Roten Armee gegen die Wehrmacht kämpfen sollte, dann wegen administrativer Probleme größtenteils in das nahöstliche britische Mandatsgebiet verlegt wurde, während die in der Sowjetunion verbliebenen Kameraden in Katyn ermordet werden sollten, verdeutlicht zugleich die zeitgeschichtliche Dimension eines persönlichen Schicksals. Ebenso wie die hochinteressante Episode seiner Mutter, die in Amsterdam just auf die gleiche Amsterdamer Montessorischule wie Anne Frank ging. Finkelsteins dramatische Familiengeschichte, die ein wahrhaft „unwahrscheinliches“ Entrinnen aus den Fängen Hitlers und Stalins schildert, fesselt auch dadurch, daß der Auotr diese Lebenswege chronologisch geschickt spiegelt. (bä)
Daniel Finkelstein: Hitler, Stalin, meine Eltern und ich: Eine unwahrscheinliche Überlebensgeschichte. Verlag Hoffmann und Campe; Hamburg 2024, gebunden, 528 Seiten, Abbildungen, 28 Euro